Letzte Reise
Wirklichkeit geweiht, das wissen wir beide. Dabei scheute er keine Mühe. Ich habe das stets bewundert. Doch jetzt, am schmerzlichen Abend meines Lebens, zweifle ich am Wert der Wahrnehmung. Diejenigen, die die Geschehnisse am Strand mit angesehen haben, haben Zeugnisse darüber geschrieben, ergreifende, zu Herzen gehende Geschichten. Aber: Geschichten! Was die Sinnesorgane wahrnahmen, ist von der Geschichte verstellt worden, und was man von ganzem Herzen wollte, hat die Erinnerung verzerrt.
Ich habe nichts mehr davon, die Wirklichkeit in irgendeiner Weise zu verdrehen. Versteh mich recht, ich möchte meinen Kollegen nicht untreu werden, und ich möchte auch der Admiralität nicht in den Rücken fallen. Die Geschichte von dem feigen, heimtückischen Angriff, bei dem James sein Leben ließ, paßt zu seinem heroischen Andenken. Ein jeder wird es, in dieser Form, in Ehren halten wollen. Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden – nur: Es ist nicht die Wahrheit. Es ist eine glänzende Schale um die grausame Wirklichkeit, darüber gepinselt von Männern, die ihrem Kapitän gegenüber loyal sind, die ihn achteten und sich dadurch blenden ließen.
Ich kann die Wahrheit nicht mit mir sterben lassen und bin aus meiner Koje aufgestanden, um niederzuschreiben, was ich weiß. Es ist eine windstille Nacht.
In einigen Stunden wird der Pelzhändler Boris Chlebnikow von meinem Bootsmaat abgeholt. Ihm vertraue ich den Brief an, weil er einen tatkräftigen und findigen Eindruck macht. Auch sieht er sehr stark und einschüchternd aus.
Doch zur Sache. Während der gesamten Reise wurden beide Schiffe von Diebstählen heimgesucht, sobald wir wo auch immer an Land gingen. Für James war das schwer erträglich, zumal wenn es um Staatseigentum ging. Diebstahl muß bestraft werden, da waren wir ganz einer Meinung, aber ich muß sagen, daß ich James' Härte bei der Strafzumessung stets weniger nachvollziehen konnte. Mir schien, daß er keine Distanz zu den Vorfällen wahren konnte und nicht mehr überblickte, welche Folgen sein Handeln auf längere Sicht haben würden. Es kann sein, daß mein Urteil durch meine Krankheit beeinflußt ist. Wer unheilbar krank ist, hat zwangsläufig mehr Abstand. Ich gebe Dir ein Beispiel.
Wenn auf meinem Schiff, der Discovery, ein Dieb ertappt wurde, ließ ich den Barbier die eine Hälfte seines Haupthaares abscheren, da ich der Meinung bin, daß der Spott von Familie und Freunden für den Vandalen eine größere Strafe darstellt als die Furcht, die wir ihm einjagen, Menschen, mit denen er keinerlei Verwandtschaft empfindet. Der halb geschorene Dieb wurde über Bord gesetzt, schwamm an den Strand und wurde ausgelacht. Das funktionierte.
James verstand das nicht. Er ließ die Diebe schlagen, als wären sie desertierte Soldaten im Krieg. Die Grausamkeit stand in keinem Verhältnis zu den begangenen Vergehen. Er ließ einem Eingeborenen tiefe Kerben in die Arme ritzen, bis auf den Knochen. Er erteilte den Auftrag, jemandem, die Ohren abzuschneiden. Ich habe viel darüber nachgedacht, aber bis heute nicht erfassen können, was die Triebfedern für sein Handeln waren.
Es schuf böses Blut, bei den Eingeborenen, aber auch bei der Besatzung, die das Verhalten der Offiziere oft spiegelt. Die Grausamkeit nahm allgemein zu. So kam es mir zumindest vor.
Der Aufenthalt auf Hawaii verlief anfangs reibungslos, weil die Bevölkerung eine eigenartige Verehrung für James entwickelt hatte. Er konnte gar nichts Falsches tun. Vielleicht haben wir das mißbraucht, und unter der schon fast sklavischen Unterwerfung wuchs insgeheim ein starker Groll heran. Der Abschied war ein beeindruckendes Großereignis. Ich war froh, daß wir ausliefen, obwohl ich wußte, daß das Polarklima meine Krankheit ungünstig beeinflussen würde. Mir war nicht wohl bei dieser Vergötterung.
Dummes Pech nötigte uns, binnen weniger Tage mit einem zersplitterten Mast wieder zurückzukehren. Jetzt war die Atmosphäre deutlich anders, die Eingeborenen verhielten sich störrisch und abweisend und verlangten hohe Preise für die Lebensmittel, die sie uns zuvor zu schenken pflegten. Es kam zu Schikanen und Diebstählen. James strafte hart und hatte überhaupt keine Geduld mehr. Der Diebstahl unseres Beiboots an jenem schicksalhaften Morgen war der Tropfen, der das Faß seiner Raserei zum Überlaufen brachte.
Er beabsichtigte, den Häuptling zur Geisel zu nehmen. Ich lag handlungsunfähig in meiner Koje. Doch die Beunruhigung trieb mich an Deck. Von
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