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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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die Welt. Habe ich Großeltern?«
    Elizabeth setzte sich ihm gegenüber. Sein Haar gleicht dem von Nat, dachte sie. Warum schneide ich es nie selbst, warum schicke ich ihn mit Isaac zum Barbier?
    »Sie sind tot. Deine Großmutter war dabei, als du geboren wurdest. Sie hat dich gesehen.«
    Der Junge schrieb die Namen auf: Grace und James, Mary und John. Hinter jeden Namen zeichnete er ein Kreuz.
    »Bei uns ist Jamie der Älteste. Wer kommt danach?«
    »Nat«, sagte Elizabeth. »Elly. Joseph. George. Und dann du.«
    Quälend langsam formte sein Stift die Kreuze. Warum fragt er nichts, dachte sie, wie George aussah, wer Joseph war, warum er selbst noch lebt und all die anderen nicht? Er würde meine Antwort nicht ertragen. Und warum frage ich nichts? Kann er sich noch an Nat erinnern, möchte er einmal mitkommen, wenn ich nach Stepney fahre, zu Elly, wie fühlt es sich an, so viele tote Kinder über sich zu haben? Ich könnte seine Antworten nicht anhören.
    »Jamie muß Kinder bekommen, sonst sterben wir aus«, sagte Benny. Er zeichnete fleißig an seinem Stammbaum weiter.
    Willenskraft und Pflichtbewußtsein veranlaßten sie, ihn jeden Abend, wenn er im Bett lag, aufzusuchen.
    »Schlaf schön, Benny.«
    »Gute Nacht, Mama.«
    Wenn sie weg war, schlüpfte er wieder aus dem Bett und kniete auf dem nackten Fußboden nieder. Tock, tock. Sie lauschte auf dem Flur mit angehaltenem Atem.
    »Herr, erbarme dich der Toten. Nat, Elly, Joseph, George, Papa und aller meiner Großeltern. Amen.«
    Im Kamin loderte ein Feuer. Die Fenster des Eßzimmers, schwarz in der früh einsetzenden Dunkelheit, spiegelten die Flammen wider. Über dem Tisch hing ein Kronleuchter mit dreißig Kerzen. Martin hatte Teller und Schüsseln in die Küche getragen und ein Tablett mit Portwein und Gläsern auf den Tisch gestellt. Elizabeth lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schaute auf die Gesichter ihrer Tischgenossen. Isaac ihr gegenüber, freundlich und vertraut; Charlotte; Jamie, gerade zum Leutnant befördert, in nagelneuer Uniform; der lebhaft redende Robert Hartland. Nächstes Jahr werde ich fünfzig, dachte sie, und immer noch bin ich da. Ich bin mehr da denn je, seit wir umgezogen sind. Isaac zwingt mich, zu leben, gut zu essen, mich auszutauschen, in Konzerte zu gehen. Ich hätte nie gedacht, daß ich das je wieder könnte. Warum ist Benny jetzt verschwunden? Bestimmt oben bei seinen Büchern. Ein Vierzehnjähriger sitzt nicht gern so lange am Tisch.
    Jamie hatte jetzt das Wort ergriffen, und alle hörten ihm fasziniert zu. Auf einem Indienfahrer war Kapitän Bligh in Portsmouth angekommen. Die Marinebasis schwirrte von Geschichten.
    »Die Meuterer haben Bligh und die Männer, die ihm die Treue hielten, in einem Beiboot ausgesetzt, einem offenen Boot! Sie haben so gut wie keine Vorräte mitbekommen. Es ist eine Höllenfahrt gewesen, aber sie sind durchgekommen und schließlich sicher irgendwo auf Java gelandet. Das ist alles nur passiert, weil er keine Marinesoldaten mithatte, da fehlen einem dann die Mittel, sich Geltung zu verschaffen. Es wird eine Verhandlung vor dem Kriegsgericht geben.«
    Arme Jane, dachte Elizabeth. David Nelson, betraut mit dem Heranziehen und Versorgen von tausend Brotbaumsetzlingen, war seinem Kapitän in das Beiboot gefolgt und hatte die gefährliche Reise gut überstanden, doch an Land war er in kürzester Zeit dem Sumpffieber erlegen. Morgen gehe ich sie besuchen – welche Sinnlosigkeit, welch absurder Zufall, welche Ohnmacht.
    Um Aufstand und Revolution drehte sich das Tischgespräch. Was jetzt in Frankreich geschehe, werde nach England herüberwehen, es hänge in der Luft, und vielleicht sei die Meuterei auf der Bounty ein Vorzeichen. Nein, meinte Isaac, ein hemmungsloses Blutvergießen wie bei den Franzosen werde es in England nicht geben, die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Ständen seien hier anders, und die Menschen seien stärker der Tradition verhaftet. Die Meuterer würden mit Sicherheit verurteilt und mit jedermanns Zustimmung an der Rah des Großmastes aufgehängt werden. Paris: Verrückt seien die Menschen dort. So eine Verschwendung! So ein Chaos!
    Robert Hartland war in London bei einer französischen Theatervorstellung gewesen, einem Stück über den Tod James Cooks; in Paris habe es massenhaften Zulauf gehabt. Weil die armen Eingeborenen kurzen Prozeß mit den wohlhabenden Besuchern gemacht hätten? Möglich, er wisse es nicht. Hier, in England, kämen die Menschen des Spektakels wegen,

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