Letzte Reise
weniger Tage ausverkauft war. Wie ein Wissenschaftler hatte sie die Schilderung von James' Tod gelesen: distanziert, darauf achtend, daß ihre Beobachtungen nicht durch eine voreilige Interpretation getrübt wurden. Durch die Lücken in der Erzählung sah sie die Geschehnisse, die Gierke ihr beschrieben hatte. Die Worte auf dem weißen Papier stellten eine Wahrheit dar, was weggelassen worden war, eine andere.
Sie konnte sich nicht vorstellen, daß es um ihren eigenen Mann ging. James, dachte sie, wie er sich anfühlte, wie er roch, wie seine Stimme klang. Ich muß mirdas ins Gedächtnis zurückrufen. Sie umgeben ihn mit Lügen, und ich beteilige mich daran. Wie oft sitze ich nicht bei diesem oder jenem am Tisch und erzähle, wie besonnen, menschenfreundlich und erfindungsreich er war. Dann kramt wieder jemand die Sauerkrautsaga aus, und ich nicke brav. Isaac erzählt, wie James ihn den ersten Schritt auf das große Südland tun ließ, und ich lächle ein wenig betrübt, aber tief zufrieden. Banks ergeht sich in einer lobenden Beschreibung, welche Gewächse James für ihn sammelte, aus Liebe zur Wissenschaft, aus Liebe! Mein Mann hatte große Achtung vor allem, was wächst, pflichte ich ihm bei, ohne mit der Wimper zu zucken.
Nichts davon stimmt. Er ist ein Rätsel. In explosionsartigen Wutausbrüchen zerstörte er alles, was ihm lieb war. Warum? ich muß das herausfinden, ich will verdammt noch mal meinen Mann zurück, ich will an ihn denken können, ohne in einen enigmatischen Sumpf zu versinken. Ich will ihn verstehen.
Sie hatte lange auf die Abbildung von Prinzessin Poetua gestarrt, die Webber während ihrer Geiselhaft in der großen Kajüte gemalt hatte. Die leicht seitwärts vorstehenden kleinen Brüste. Die Tätowierungen. Der Blick: ergeben, verächtlich? Sie ist schwanger, hatte sie gedacht, der linke Arm liegt über ihrem schwellenden Bauch, und das macht sie stärker als all die Kerle in der stickigen Kajüte. Wie konnte James eine halbnackte schwangere Frau tagelang gefangenhalten, nur um eine gestohlene Ziege zurückzubekommen?
Isaac erlöste sie schließlich. Er zwang sie, den Grundriß des neuen Hauses zu studieren und Entscheidungen in bezug auf Tapeten und Möbel zu treffen. Er war für einige Monate auf halbem Lohn an Land und hatte alle Zeit, ihr beim Packen zu helfen. Es war nie konkret beschlossen worden, zusammenzuwohnen, das hatte sich ganz von allein ergeben. Nach und nach war er bei ihr eingezogen, nach jedem Urlaub ließ er weitere Habseligkeiten in ihrem Haus zurück. Sein Mantel hing im Flur.
»Wir ziehen um, sobald Benny mit der Schule fertig ist«, sagte Isaac. »Was hast du mit dem Garten vor, willst du viel daraus mitnehmen? Dann machen wir uns ans Ausgraben.«
»Nur die Malven«, sagte Elizabeth. »Wir fangen in Clapham von vorne an. Keine exotischen Pflanzen mehr. James zuliebe brauchen wir es nicht zu tun, alles steht auch in Kew. Und besser dazu.«
Der Garten des neuen Hauses war hell und übersichtlich. Martin, der Hausdiener, mähte das Gras unter den Pflaumenbäumen mit der Sense. Sie schauten von der überdachten Holzveranda aus zu.
Elizabeth fühlte sich ungewöhnlich zufrieden. Ihr großes, L-förmiges Schlafzimmer bot Raum für das große Bett, einen Waschtisch, einen Schreibtisch, und immer noch war jede Menge Platz. Auch die Kiste mit Geheimnissen hatte sie nach langem überlegen in diesem Zimmer untergebracht, weit hinten in einem Wandschrank. Nachts schien ihr manchmal, als komme ein Beben, ein feindseliges Rauschen aus dem Schrank, und sie mußte sich aufsetzen und eine Kerze anzünden, um sich davon zu überzeugen, daß alles in Ordnung war.
Jeden Donnerstagnachmittag gab sie einen Empfang. Eine Frau aus Clapham kam zum Kochen, Martin ließ die Gäste herein und bediente bei Tisch.
»Du hast Freunde«, hatte Isaac gesagt, »Menschen, die es schön finden, dich zu sehen. Organisier was Nettes für sie. Faß dir ein neues Kleid schneidern. Denk dir ein Essen aus. Du kannst das.«
Wen sollte sie denn bloß einladen? Charlotte, in ihrer Doppelrolle als Freundin und Haushälterin, war ohnehin immer da. Jamie gesellte sich in seinem Urlaub dazu. Benny aß mit, immer dicht neben Charlotte und schweigend, es sei denn, jemand stellte ihm eine direkte Frage. Jane Nelson kam aus Stepney. Sie hatte neue Hilfstruppen für die kleine Schule rekrutiert; Elizabeth ging nur noch einmal die Woche zum Vorlesen hin, finanzierte die Unternehmung aber weiterhin. Alle zwei, drei
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