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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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mehr darüber gesprochen worden, und James' persönliches Eigentum wurde von jedermann versteckt gehalten, als hätte es sich in Nichts aufgelöst.
    Jetzt weißt Du alles. Ich fühle mich erleichtert. Vielleicht habe ich Dich mit Tatsachen belastet, die Du lieber nicht gekannt hättest. Ich bin mir darüber im klaren, daß Du sie jetzt nie mehr nicht wissen kannst, und falls ich die Notwendigkeit dieses Briefes falsch eingeschätzt haben sollte, bedaure ich das. Ich übereigne Dir die Tatsachen. Ob Du sie der Öffentlichkeit preisgibst oder sie in Deinem Herzen bewahrst, ist eine Frage, über die nur Du allein entscheiden kannst.
    Ich schätze mich glücklich, daß ich James gekannt habe. Ich nehme jetzt, an der Schwelle zum Tod, Abschied von der Frau, die ihn liebte. Ich grüße Dich, Elizabeth, auf immer. Charles Gierke
    Jane Nelson war nicht sie selbst. Schon seit Monaten nicht, dachte Elizabeth. Schreckhaft, nachlässig, schnell aus der Fassung gebracht. An diesem Morgen hatte sie in der Pause einen Jungen geohrfeigt, der versehentlich seinen Kakao umgeworfen hatte. Danach war sie in Tränen ausgebrochen. Elizabeth hatte sie ins Konsistorialzimmer geführt, in den Lehnsessel des Pfarrers gesetzt und selbst die Leitung der Schule übernommen. Als die Kinder nach Hause gingen, setzte sie sich zu Jane.
    »Geht es?«
    Jane zerknüllte ein Taschentuch zwischen den spitzen Fingern. »Nervös«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was mit mir ist. Keine Ruhe. Ich kann auch überhaupt nicht schlafen. Sollte ich mit der Schule aufhören, was meinst du? In diesem Zustand bin ich nicht gut für die Kinder. Voriges Mal, als David auf See war, hat mir das gar nichts ausgemacht. Wie kann das sein?«
    Warten vergiftet, dachte Elizabeth. Es wird mit den Jahren nicht besser, sondern schlimmer. Alan wird erschöpft und hält es immer schlechter aus. Die Haut hängt loser um die Knochen, und neue Falten graben sich ins Gesicht. So ist das.
    David Nelson war erst vor zwei Monaten mit Kapitän Bligh auf der Bounty abgereist, die Samen und Setzlinge des Brotbaums von Tahiti holen sollte. Tausend Töpfe habe er mitgenommen, hatte Jane erzählt. Sie wollten die jungen Bäumchen dann auf Jamaika einpflanzen. Preiswerte und gesunde Nahrung. Dank James und seinen Südseekontakten komme der Handel in Gang, Banks stecke dahinter, er sei ganz verrückt auf den Brotbaum.
    »Komm, wir laufen ein Stück«, sagte Elizabeth. »Hier, dein Mantel. Natürlich darfst du nicht mit der Schule aufhören, jetzt mußt du erst recht weitermachen. Weißt du nicht mehr, daß du das zu mir gesagt hast, als Nat starb, vor sieben Jahren? Ich konnte es nicht, ich wußte nicht, was ich eigentlich im Klassenzimmer suchte, und wußte die Namen der Kinder nicht mehr. Und doch bin ich hingegangen, jeden Tag. Es half. Es war ein guter Rat.«
    »Ich sitze aufrecht im Bett, wenn es stürmt. Ohne Sinn und Verstand, denn David ist ja am anderen Ende der Welt. Wie hast du das gemacht?«
    »Raus an die frische Luft«, sagte Elizabeth. »Lesen. Ein wenig im Zimmer umhergehen. Ein Gläschen Port. Das habe ich von meiner Mutter gelernt.«
    Mary war vor einigen Jahren endgültig in den Nebel der Demenz entschwunden und lag nun neben Elly begraben. Elizabeth hatte sie auch in dieser letzten Phase nicht oft besuchen können, weil Mary unendlich traurig wurde, sobald sie ihre Tochter erblickte. Sie hatte niemanden mehr erkannt, doch die Reaktion auf Elizabeth war bis zum Schluß unverändert geblieben.
    »Menschen im Haus, so wie du es hast, das hilft«, sagte Jane. Sie liefen Arm in Arm, die Köpfe im Wind.
    »Sie kommen, sie gehen. Wenn sie sich verabschieden, fürchte ich, sie könnten nie wiederkommen, jedesmal. Zum Glück sind es stets kurze Reisen, für beide. Isaac ist erster Leutnant geworden, wußtest du das? Jamie ist zur Zeit Reservist. Er reitet jetzt, als sei er auch an Land nur in schaukelnder Bewegung glücklich. Benny ist natürlich immer zu Hause.«
    Der Junge würde im Frühjahr zwölf werden. Sie mußte ihn vom Wasser fernhalten, es war undenkbar, ihn auf die Seefahrtsschule zu schicken. Es gab auch niemanden mehr, der darauf drängte.
    Sie verabschiedete sich von Jane und ging nach Hause. Der vertraute süße Dunst von der Ginfabrik, das ewige Glitzern des Flusses, wo sich ein Durchblick zwischen den Häusern bot. Das frisch gestrichene, glänzende Tor ihres eigenen Gartens. Davor, mitten auf der Straße, immer das sich aufbäumende Pferd und die W agenräder über

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