Letzte Reise
Kinder starben; ich stand außerhalb dieses Stroms, in den alle anderen aufgenommen zu sein schienen. Ich wußte nicht mehr, welche Stunde des Tages, der Nacht es war und ob Ereignisse vor kurzer oder langer Zeit stattgefunden hatten. Die Zeit in mir stand still, daher konnte ich sie nicht mehr abschätzen. Es war auch ohne Belang.
Später merkte ich, daß alles weitergegangen war und ich nachging. Ich versuchte, dem Strom zu folgen, stolpernd, auf den Knien, halbherzig. Ich blieb hintendran und schaute mich nach früher um, nach der Zeit, in der ich sein wollte. Ich kenne das.
Das Gespräch war eine Geräuschwolke, ein plätschernder Hintergrund für ihre Gedanken. Sie mußte besser achtgeben, es ging um ihre Tafel, ihre Gäste, ihre Zeit.
»Er nahm ein frisches Blatt Papier«, sagte Isaac, »und wir räumten den Tisch ab. Wir zeichneten die Längen- und Breitengrade ein. In einer Ecke begann ich mit der Windrose, herrlich war das. Dann trugen wir alles, was wir wußten, zusammen, und vor unseren Augen entstand etwas Neues, ja, die Insel kam uns vollkommen neu vor, obwohl wir alle Teile kannten, sie wuchs unter unseren Bleistiften zu einem übersichtlichen Ganzen zusammen, als würden wir sie erst wirklich kennen, wenn sie ganz und gar auf dem Papier stand.«
»Ich finde es immer schade, daß es nur der äußere Rand ist«, sagte Jamie. »Nur die Küste, denn weiter kann man meistens nicht sehen. Im Innern eurer Inseln ist ein weißer Fleck. Ja, einen einzelnen Berg, den vermutlichen Lauf eines Flusses, einen Vulkan kann man noch hineinsetzen. Aber sonst? Man müßte sich im ganzen Land tummeln. Messen. Wissen.«
Ich auch, dachte sie. Sie erzählen mir, was ich tun soll. Daten sammeln, die Dinge, die ich weiß, miteinander in Zusammenhang bringen, sie so nebeneinander legen, daß etwas Neues entsteht, etwas, das ich verstehen kann. Dank Isaac und den Jungen laufe ich wieder am Gängelband der Zeit, jetzt müßte ich das in Angriff nehmen können. Ich bin es James schuldig.
Ihr fiel ein, daß die Karte von Hawaii von William Bligh, dem unglücklichen Opfer der kürzlichen Meuterei, unterzeichnet war. James war nicht imstande gewesen, seine Beobachtungen selbst zusammenzufügen. Wenn er es schon nicht geschafft hatte, wie sollte sie es da können?
Sie lehnte sich zurück und spürte die Glut des Kaminfeuers, vor ihren Augen zeichneten sich die Umrisse der Insel ab, und die ganze Aufmerksamkeit wurde in deren leeren Mittelpunkt gezogen, ein vor weißer, gleißender Hitze pochendes Herz.
12
Sie hatte die vergangenen Jahre mit belanglosen Kleinigkeiten vergeudet und vertan. Die Entschlossenheit, mit der sie die Nachforschungen nach James' Tod in die Hand hatte nehmen wollen, hatte sich unbemerkt verflüchtigt. Unaufhaltsam schob sich eine Aufgabe, eine Verpflichtung nach der anderen davor, und es schien, als sei ihr das gerade recht.
Jane Nelson hatte ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. In der Zeit ihrer frischen Witwenschaft besuchte Elizabeth sie nahezu täglich. Sie machten lange Spaziergänge und suchten zusammen Joseph Banks auf, um eine Pension für Jane zu erwirken. Von der Wand blickte James streng auf Elizabeth herab.
»Es ist und bleibt ein wunderbares Porträt«, sagte Banks. »Dance hat ihn so gut getroffen. Genau so, wie man ihn kannte.«
Unsinn, dachte sie. Er ist abgebildet, wie er vielleicht sein wollte, aber nicht, wie er war. Mit Schmerz erinnerte sie sich, wie James ihr im Garten die Pose vorgemacht hatte.
Ihre kleine Schule leerte sich, weil stets mehr auch für die Ärmsten bezahlbare Schulen errichtet wurden. Elizabeth hatte daraufgedrängt, noch eine Weile als Auffangstation für die Kinder weiterzumachen, die nach der Schule in ein leeres Haus zurückkehren würden, doch am Ende entschieden sie sich für die Auflösung.
Jane erholte sich erstaunlich gut. Sie war immer hager und drahtig gewesen, wurde nun aber regelrecht dick. »Ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie verwundert. »Ich mußte mir schon zweimal neue Kleider zulegen. David hätte das gefallen, er sagte immer, ich sei viel zu dünn.«
Rege bleiben, dachte Elizabeth, es muß etwas an die Stelle der Schule treten, sonst hat der Tag keine Form, und sie sitzt nur untätig herum. Von Jane selbst kam schließlich der Vorschlag, Nachmittage für junge Seemannsfrauen zu organisieren.
»Als David wegfuhr, wußte ich nicht, wie mir geschah«, sagte sie. »Wenn ich dir damals nicht begegnet wäre, wäre es übel mit mir
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