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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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das Aussterben der Familie war in ihren Gedanken hängengeblieben und sorgte dafür, daß sie ihren Ältesten genau im Auge behielt.
    »Ich sah Jamie durch die Hauptstraße laufen«, sagte Charlotte. »Mit der Tochter des Doktors, ein liebes Mädchen, etwas mollig. Susanna heißt sie.«
    Weihnachten kam sie zum Essen. Sie bedachte Jamie mit bewundernden Blicken und fragte Benny mit aufrichtigem Interesse, was er mache. Schüchtern und errötend sprach sie Elizabeth im Flur an: »Ich finde es so schlimm für Euch, wen Ihr alles verloren habt, ich traue mich gar nicht, darüber zu sprechen. Aber ich möchte, daß Ihr wißt, wie außergewöhnlich ich es hier finde und daß Ihr das fertigbringt, so einen gemütlichen Abend.«
    Elizabeth war gerührt und erwiderte etwas Nettes. Isaac wollte auf das neue Paar anstoßen, und Jamie blickte stolz.
    Sie dachte an Hugh Palliser, vielleicht nicht täglich, aber doch oft. Von Zeit zu Zeit gingen Briefe zwischen Chalfont und Clapham hin und her, oberflächliche Briefe, in denen sie ihn über das Leben seines Patenkindes informierte; nichtssagende Briefe, in denen er von den Tieren auf seinem Landsitz erzählte; Briefe mit eigenartigen unterschwelligen Anspielungen, die sie ganz krank machten. Er schrieb ihr an den Todestagen von Nat und Elly. Das schätzte sie. Zumindest die Intention. Die mutlose Distanz, die aus seinen Worten sprach, machte sie ärgerlich.
    Es hat keinen Sinn, daß wir uns sehen, schrieb er, mein Leben bewegt sich mittlerweile in engen Grenzen, und ich möchte es gerne dabei belassen. Mir genügen die Erinnerungen. Schade, daß wir einander nicht den Trost geben konnten, den wir brauchten, aber so ist es nun einmal. Wir müssen uns damit abfinden.
    Rasend machte sie das. Die Wut raubte ihr den Schlaf, sie komponierte scharte Repliken, die sie mit kratzender Feder niederschrieb, aber schließlich in einer Schublade liegenließ.
    Niemand hat mich je so gestützt wie er, dachte sie, und ich bin zu niemandem je so offen, so unbefangen und ohne Hintergedanken gewesen wie zu ihm. Daß er sich weigert, etwas miteinander zu teilen, während wir noch da sind, daß er in Erinnerungen versinkt, während wir noch existieren – sie knurrte und fluchte vor Demütigung und Entrüstung.
    Dann kam das Morgengrauen durch die Fenster herein, und sie sah sein gequältes Gesicht vor sich. Wie er will, dachte sie. Ich richte mich ganz nach ihm und mache es ihm nicht schwerer, als es schon ist. Ich verstehe zwar nicht recht, womit er zu ringen hat, aber ich liebe ihn genug, um ihn zu lassen.
    Sie vermutete ein Geheimnis, mit dem er sie nicht belasten wollte, und konnte seine Bemerkung über James nicht vergessen. Es gelang ihr nicht, klar weiterzudenken, zu viele Stränge liefen durcheinander. Dann legte sie ihre bösen Briefentwürfe weg und machte sich in der noch kalten Küche Kaffee.
    Benny wurde sechzehn. Er war größer als sie und begann auszusehen wie James, als sie ihm zum erstenmal begegnet war. Er war ein anpassungsbereiter, stiller Junge geblieben, der manchmal zu ihrem Erstaunen schon stundenlang im Zimmer saß, ohne daß sie ihn bemerkt hatte. In die aufgeregten Gespräche zwischen Isaac und Jamie, immer über Klatsch und Mißstände bei der Marine, mischte er sich nie ein. Die Erzählungen von Robert Hartland über die spannende neue Musik ließen ihn kalt; Einladungen zu Konzerten schlug er aus, weil er noch lernen wollte. Das einzige, was er von sich aus mit großer Leidenschaft unternahm, war, in die Kirche zu gehen. Er konnte begeistert davon erzählen, was der Pfarrer diesmal wieder in seiner Predigt angeschnitten hatte. Elizabeth fiel nichts Besseres ein, als Bennys Beiträge zur Unterhaltung zu ignorieren. Sie verachtete sich selbst dafür. Der Junge bekundete, was ihn beschäftigte, dafür sollte sie Interesse aufbringen. Wovor fürchtete sie sich?
    »Dich sehe ich nicht zur See fahren, wenn du mit dieser Schule fertig bist«, sagte Isaac. »Was willst du eigentlich werden?«
    Benny warf seiner Mutter einen Seitenblick zu. »Pfarrer. Ich werde Theologie studieren. In Cambridge.«
    Er errötete und schaute auf seinen leeren Teller.
    Sie fühlte ihr Herz rasen. Weil ihr eigener Sohn der Zunft beitreten wollte, die sie als heuchlerisch betrachtete? Weil es ihr nicht gelungen war, ihm so viel Geborgenheit zu geben, daß er ohne Glauben auskam?
    »Fabelhaft!« sagte Jamie. »Auf eine echte Universität. Das ist mal was anderes als Knoten schlingen und Besteck

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