Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
Vom Netzwerk:
Aber so war es gar nicht. Das war eine Fehleinschätzung. Wer zur See fuhr, mußte sich mit Gefangenschaft abfinden, mußte Kopf an Gesäß mit stinkenden Männern liegen und ertragen können, daß die Haut des Schiffes ihn einzwängte. Man konnte nicht vom Schiff herunter. Man war dem Lärm, der schlechten Luft, einander ausgeliefert.
    An Deck hatte sich eine kleine Gruppe um Pickersgill versammelt. Er stand inmitten von Kisten und Kartons, die er Stück für Stück öffnete, um den mitgebrachten Inhalt zu zeigen. Mit beiden Händen streute er feuerrote Vogelfedern über die entzückten Damen, er drapierte kunstvoll gewebte Tücher aus unbekannten Garnen um die Schultern von Sandwichs Freundin und wedelte furchterregend mit bunt bemalten, geschnitzten Speeren. Elizabeth zog sich an die Reling zurück und schaute zu, wie sich die Frauen gegenseitig Federn ins Haar steckten, prüfend über den Stoff strichen und den Leutnant ermunterten fortzufahren. James war nirgendwo zu entdecken, er würde wohl in seiner Kajüte sitzen, zum letztenmal Herr und Meister auf seinem Schiff.
    Sie spürte seinen Körper, bevor sie ihn sah. Palliser hatte sich neben sie geschoben und sah sie fragend an.
    »Der reinste Jahrmarkt«, sagte sie. »Sie haben keine Ahnung, was sie sehen, was sie berühren. Machen sich keine Vorstellung davon. Es interessiert sie gar nicht.«
    »Meistens sehen die Menschen nur, was sie schon wissen. Deshalb stecken sich die Damen Federn ins Haar. Du hast recht, wirkliche Neugierde, was die Dinge für einen anderen bedeuten, ist selten. James besitzt sie. Er ist eine Ausnahme. Dazu gehört auch Mut.« Seine Schulter drückte gegen die ihre. Sie ließ es geschehen, rückte nicht zur Seite.
    Pickersgill hatte einen Glasbehälter aus einer Kiste genommen und hielt ihn in die Höhe, so daß die Flüssigkeit, die sich darin befand, hin und her schwappte. Das Kreischen der Umstehenden verstummte, als die Flüssigkeit zur Ruhe kam und die Schwebstoffe darin auf den Boden gesunken waren. Aus dem leicht getrübten Alkohol schimmerte ein Büschel schwarzes Haar hervor, und nach und nach wurden zwei Reihen funkelnder Perlen sichtbar, die sich plötzlich zu einem Gebiß formierten. Da erst sahen die Zuschauer die Augenhöhlen, die flache, fleischige Nase, die Hautfetzen am abgeschnittenen Hals.
    Sandwichs Freundin schrie auf und rannte zur Reling, um sich zu übergeben. Frauen klammerten sich aneinander, und selbst die Männer wurden bleich.
    »Menschenfresser!« rief Pickersgill. »Man glaubt es nicht, aber wir sind dabeigewesen. Wir haben das wissenschaftlich untersucht. Zuerst dachten wir, es seien nur Schauermärchen. Doch es ist wahr, sie verspeisen ihre Feinde. Wir haben sie an Bord geholt, sie hatten diesen Kopf dabei, in einem Korb. Unser Koch schnitt ein paar Scheiben davon ab, die er wie Rinderfilets gebraten hat. Dann haben wir den Wilden das Menschenfleisch angeboten. Sie aßen alles auf!«
    An Deck wurde ungläubig gestarrt, gewürgt und geschaudert. Manche kamen näher und wollten den geschundenen Kopf genau studieren, andere wandten sich ab und steuerten zögernd auf die Laufplanke zu. Da erschien Sandwich in der Tür zur großen Kajüte und lud die Gäste zu Tisch.
    »Essen«, sagte Palliser neben ihr. »Alles dreht sich ums Essen. Man denkt, daß man ißt, um gesund zu bleiben, doch es steckt viel mehr dahinter. Kommst du mit?«
    Sie konnte eine leichte Übelkeit nicht unterdrücken und wandte den Blick zur Stadt.
    »Er hat es getan«, sagte der Mann neben ihr leise. »Er hat den Brief geschrieben, sein Gesuch ist erwogen und bewilligt worden, es ist alles beschlossen und festgelegt. Bei den Kuppeln dort werdet ihr wohnen.«
    Sie nickte. Es war still geworden an Deck. Sie legte die Hand auf seinen Arm und sah ihn an.
    »Danke«, sagte sie, »ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin.«
    Kisten und Kartons wurden ins Haus getragen. In Ecken und Nischen erschienen leuchtende Farben. Ein riesenhafter Federmantel glühte orangerot auf einem Ständer im Flur, in der Stube lagen bemalte Masken und geflochtene Körbe auf dem Fußboden. James trug selbst eine kleine Kiste mit Nüssen und Samen in die Waschküche. Er stellte sie vorsichtig neben Besen und Kehrschaufel und trat hinaus, um sich den Himmel anzusehen. Tief atmete er die Sommerluft ein, mit hochgerecktem Kinn.
    »Zu trocken. Sobald Regen kommt, säe ich aus. Es ist eigentlich schon zu spät, der Herbst steht vor der Tür, aber ich versuche es

Weitere Kostenlose Bücher