Letzte Reise
da.«
Er faßte ihre Hand und streichelte sie zerstreut. Ein heftiger Drang zu weinen überkam sie, und sie zwang sich, an das Schnittmuster für James' Weste zu denken, an das Essen für diesen Abend, an die Sämereien, die sie fürs Frühjahr besorgen wollte. Mai. Beinahe Zeit für Nat, von zu Hause wegzugehen. Nicht weinen jetzt, red einfach darüber.
»Nein«, sagte Palliser, »ich glaube auch nicht, daß dieser Junge auf See glücklich sein wird. Jamie schon, das sieht man, der ist dem gewachsen, der kann sich beweisen. Nat ist anders. Nun ist es aber schon so, daß die Marine Menschen jeden Schlags Platz bietet. Wenn er erst einmal die leidige Ausbildung überstanden hat, sieht es wirklich besser für ihn aus. Nicht jeder muß fortwährend auf einem Schiff sein. Es gibt auch Funktionen an Land. Und sie brauchen Musiker. Hornisten, Trommler, Trompeter. Nur schade, daß er schon so jung von zu Hause fort muß, und so bald nach der Geburt eines neuen Kindes. Nein, das ist nicht schön.«
Woher weiß er das, dachte sie, er hat keine Kinder, er fürchtet sich nicht vor der See, und trotzdem weiß er, was Nat empfindet. Sie sah, wie ihre Hand zitterte, als sie ihm nachschenkte. Von James werde ich nicht sprechen, beschloß sie. Er kennt ihn, er weiß, daß mit ihm nicht über einen anderen Beruf für die Jungen zu reden ist. Er weiß das sehr wohl.
»Schwierig für Nat, schwierig für dich.« Er drückte ihre Hand. Sie begann eilig, von der Arbeit an den Journalen zu sprechen, dem Ordnen und Verbessern, den freundlichen Bemühungen von Douglas.
»Schön, gut so«, sagte er nickend. »Dann hat James endlich Zeit, die Expedition vorzubereiten. Wir hatten in Deptford Differenzen darüber, das hat er dir doch sicher erzählt, nicht? Die Arbeiter dort haben gepfuscht. Wurmstichiges Holz mit Farbe überstrichen, morsche Teile nicht ausgetauscht – man traut seinen Augen nicht. James wurde wütend, und zu Recht. Ich hätte das beaufsichtigen müssen, da stimme ich ihm vollkommen zu. Ich habe mich natürlich entschuldigt, und er hat meine Entschuldigung angenommen, die Freundschaft hat nicht darunter gelitten. Ich mache mir selbst Vorwürfe. Eine unverzeihliche Nachlässigkeit.«
»Was war denn?« fragte sie. »Warum konntest du nicht?«
Ihre Hand zwischen seinen Händen. Er sah sie nicht an, streichelte mit den Daumen über ihren Handrücken.
»Dieses elende Unternehmen, den Wilden zurückzubringen. Der König will dies, Sandwich will jenes, und die Akademie wieder etwas anderes. Wo soll das Geld herkommen, wer soll den Befehl führen, wie sollen die Ordern lauten. Das beschäftigt mich, und ich komme zu keinem Ergebnis. Trotzdem: unverzeihlich. Ich hätte die Willensstärke haben müssen, täglich auf die Werft zu gehen. Das habe ich nicht getan.« Er verstummte kurz.
»Da ist noch mehr. Noch mehr, was mich ablenkt und verwirrt. Ich habe in diesem Herbst viel und fruchtlos gegrübelt. Ich werde alt, Elizabeth. Was ich früher leicht verkraften konnte, bereitet mir jetzt stets mehr Mühe und erschöpft mich. So viele Konflikte überall. Und zu Hause –«
Er hob das Bein vom Stuhl und setzte sich anders hin.
»Ich werde dich nicht mit meinen Problemen belästigen. Du hast den Kopf schon voll genug. Dieser Madeira ist vortrefflich, ein guter Kauf von James.«
»Wie geht es zu Hause?« fragte sie. »Hat sich etwas verändert?«
Er schüttelte den Kopf. »Alles noch dasselbe. Und so wird es auch bleiben. Sie ist krank, sage ich meistens. Doch krank ist sie nicht. Sie ist kerngesund, nur lebensuntüchtig. Der Arzt gibt ihr ungeheure Mengen Laudanum, so daß sie Tag und Nacht schläft. Ich schlafe sehr wenig. Wenn ich ruhe, macht mir mein Bein zu schaffen. Wenn ich mich hinlege, wird es unerträglich. Also sitze ich die ganze Nacht in meinem Sessel und warte auf den Tagesanbruch. Darüber möchte ich aber gar nicht mit dir sprechen. Ich möchte nicht jammern.«
»Du jammerst nicht. Du erzählst, wie es ist. Ich möchte das schon hören.«
Er strich sich über das Gesicht, massierte seine Stirn.
»Wenn sie keine Schlafmittel bekommt, irrt sie herum. Der Gärtner hat sie einmal vom Teich weggerissen. Ich habe ihre Schlafzimmerfenster von außen verriegeln lassen. Sie wird gepflegt und versorgt, aber eigentlich wird sie bewacht. Ich lasse sie permanent von Pflegern im Auge behalten, die eigentlich Bewacher sind. Es ist gut, daß sie derzeit so viel schläft. Wenn sie wach ist, weint sie. Das kann ich schlecht
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