Letzte Reise
dachte ich mir schon. Ihr werdet hier gebraucht.«
Es war still. In der Stille begann eine Amsel zu singen, zunächst verhalten, dann aber mit immer größerer Hingabe. Boswell lauschte mit geschlossenen Augen. James sah Elizabeth an und lächelte. Der Vogel saß auf dem Dachfirst, den dunkelgelben Schnabel hoch erhoben. Er pfiff eine Kadenz aus Dreiklängen, mit Trillern und triumphalen Stakkatotönen. Die virtuose Darbietung ging in ein Lied über, eine Melodie, die silberhell durch die Luft schwebte und sich wie eine Kuppel über dem verstummten Garten aufspannte.
Elizabeth lächelte ebenfalls.
8
Das Kind senkte sich ins Becken, und Elizabeth bekam wieder mehr Luft. Noch wenige Wochen, dachte sie, dann sehe ich meine Tochter. Es wurde Mai, die Kastanien blühten, und im Windschatten der Mauer waren die Keimlinge der Kardone hervorgekommen. Warten, in Erwartung sein. Geduldig der Geburt harren.
Es war ihr recht, etwas anderes erstrebte sie nicht. Sobald etwas Bedeutsames geschah, würde die Wirklichkeit wie schäumendes Wasser durch einen gebrochenen Flußdamm gewaltsam in ihr Leben eindringen: Nat würde in die Kutsche steigen, James würde die Leinen der Resolution losmachen lassen, und Elly würde toter als tot unter dem Gras liegen, wenn ein anderes Mädchen ihre Kleider trug. Warten bedeutet Beschlüsse aufschieben, Möglichkeiten offenhalten, schweigen. Mit einem hochschwangeren Bauch warten bedeutet zu Verpflichtungen nein sagen dürfen, zerstreut und abgelenkt sein dürfen, mitten am Tag auf dem Sofa liegen dürfen.
Sie weigerte sich, James zu dem Fest auf der Werft anläßlich der Fertigstellung der Reparaturen zu begleiten. Ihr graute im vorhinein vor dem Anblick beengter Kajüten und eines bis zum Rand vollgestauten Schiffsraums und vor dem Geräusch knarrenden Tauwerks. Teergeruch – nein, sie blieb zu Hause. Diese ganze Abreise mitsamt den Zeremonien darum herum war doch nur ein Spiel. Es mußte geschehen, und alle mußten daran glauben, doch es war nicht mehr als ein ritueller Tanz ohne eigentlichen Sinn. Wenn James die Nachricht von der Geburt seiner Tochter bekam, würde er von Bord springen und den Schiffen ade sagen, um nach Hause zu eilen, da war sie sich sicher. Oder würde die Niederkunft der Auftakt für die anderen sein, sie gänzlich zu verlassen? Solange das Kind in ihrem Bauch war, standen alle um sie, ihre Mutter, ihr Mann, ihr Sohn. Sie ließ keinen von diesen lieben Menschen wirklich an sich heran, war sich ihrer Anwesenheit und Aufmerksamkeit aber bewußt. War es denkbar, daß sie sich alle abwenden und davonrennen würden, sobald das Kind geboren war? Sie dachte es, denkbar war es also mit Sicherheit, aber sie dachte so vieles, und längst nicht alle Gedanken konnten sich in etwas Greifbares verwandeln. Das Gesicht Pallisers stand ihr plötzlich mit einer Deutlichkeit vor Augen, die sie erschreckte. Sie schauderte. Einen Moment hinlegen. Sie sank auf das Sofa nieder, das James für sie in die Stube hatte stellen lassen, und zog eine alte Tagesdecke über ihren Bauch. Sie drückte eine Kuhle in das Kissen und setzte die Haube ab. Das volle Grün von Bäumen und Sträuchern dämpfte das Licht.
Sie wurde von den schmetternden Tönen der Trompete geweckt. Einen Augenblick war sie völlig desorientiert, schaute um sich – Bücherschrank, Tischtuch, Öllampe –, nie zuvor hatte sie das Zimmer von diesem niedrigen Blickwinkel aus gesehen; sie spürte die Angst in ihrem Magen toben, wo war sie, wie weit war sie, war James noch da, und wo, wo war Elly? Erst als sie sich aufsetzte, wurde die Stube wieder vertraut, und sie konnte die Trompetenklänge einem bekannten Motiv zuordnen, langsam, traurig, das Nat in seinem Zimmer einstudierte. Ein bohrender Schmerz im unteren Rücken. Es würde doch nicht losgehen? Jetzt schon? Sollte sie die Hebamme benachrichtigen, ihre Mutter holen, James suchen lassen? Sie zwang sich, andächtig auf ihren Sohn zu lauschen. Nat setzte die einfachen Dreiklänge genau im richtigen Zeitmaß, nirgendwo übereilt, nirgendwo zu langsam. Sie lauschte so intensiv, daß das Lied in ihr mitklang, wodurch ihre Atmung regelmäßig wurde und auch sie selbst zur Ruhe kam. Und jetzt? Sie war aufgestanden, um Wasser zu lassen, sie hatte Tee aufbrühen wollen, sah aber davon ab, als sie in der Küche stand und sich vorstellte, daß sie den schweren Wasserkessel hochheben mußte. Langsam war sie zum Sofa zurückgegangen, hatte ihre Schuhe ausgezogen, mühsam, den Kopf
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