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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Augenaufschlag! Die Brauen!
    Nun ja, die Männer seien beide auf demselben Stück Land aufgewachsen, hatte Isaac gedacht, vielleicht hätten der Kalkgehalt des Bodens, die Qualität der Luft, die sie einatmeten, das Wasser, das sie tranken, die auffallende Ähnlichkeit verursacht. Aber seltsam bleibe es.
    Elizabeth hatte geschwiegen, an James' Mutter denkend, die mit dem alten Skottowe im Schuppen gestanden und flüsternd einen heftigen Disput ausgetragen hatte, der James, damals noch ein kleiner Junge, erschreckt hatte. Der bösartige alte Mann am Kamin in Yorkshire hatte vielleicht Grund, sich zurückgesetzt zu fühlen, die Schwestern hatten recht mit ihrer Mißgunst.
    Ein stechender Schmerz brachte sie zurück zu dem, was jetzt anstand. Mutterschaft. Wie ein Kind ausstoßen, das sie lieber in sich behalten wollte? Die Hebamme kontrollierte erneut die Erweiterung des Muttermunds.
    »Versucht es einmal«, sagte sie, »bei der nächsten Wehe.«
    Aber sie wollte nicht. Sie zog zwar die Beine an und senkte den Kopf auf die Brust, sie hielt den Atem an und preßte, bis sie rot angelaufen war, doch es war ein halbherziger Versuch, der zum Scheitern verurteilt war.
    Die Hebamme werkelte im Zimmer herum und ordnete auf dem Tisch Babysachen und saubere Tücher zu Stapeln. Es war stickig. Elizabeth bat, ob nicht das Fenster geöffnet werden könne, es verlangte sie auf einmal sehnlich nach dem Geruch ihres blühenden Gartens, dem Dunst der Kastanienblüten, einem Dufthauch von den Maiglöckchen, die wie weiße Perlen zwischen den aufrechten Blättern verborgen waren, Flieder – doch die Hebamme schüttelte den Kopf. Keine Zugluft. Zugluft sei fatal für Mutter und Kind. Die Niederkunft mußte in absoluter Windstille stattfinden.
    Die Zeit verstrich. Pressen. Schmerzen. Ihr wurde schwarz vor den Augen. Zurück ins Kissen. Dann wieder die Ankündigung der nächsten Wehe. Das Sonnenlicht wurde gelblicher, der Wind legte sich. Jemand polterte die Treppe herauf.
    Mary kam herein und stellte ein Tablett mit Gläsern und Flaschen auf den Tisch. Mit zusammengepreßten Lippen nickte sie der Hebamme zu. Sie trug ein buntes Tuch über den Schultern, gelb, rot und schwarz. Elizabeth wurde schon schwindlig, wenn sie nur daraufschaute.
    »Wie steht es mit deinen Zähnen, Mutter?«
    Mary brummte und füllte die Gläser, Bier für die Hebamme, Gin in einem Wasserglas für sie selbst. Mit dem Glas in der Hand setzte sie sich ans Bett.
    »Er schläft heute nacht bei Isaac im Bett. Mach dir keine Sorgen. Als ich ging, waren sie gerade dabei, Tau zu spleißen. Da kann Nat sogar noch etwas lernen. Wie lange bist du schon zugange?«
    Elizabeth, im Bann der Schmerzen, konnte nicht antworten.
    »Zu lange«, sagte die Hebamme. »Es ist für Euch das fünfte Mal, nicht wahr? Es müßte schneller gehen. Ihr müßt Euer Bestes geben.«
    »Sechste«, keuchte Elizabeth.
    »Also noch schneller.«
    Die Hebamme trank einen Schluck Bier und begann, sich über Elizabeths spitz aufragenden Bauch hinweg mit Mary zu unterhalten. Es dämmerte. Elizabeth fühlte Tränen aus ihren Augenwinkeln rinnen, feuchte, allmählich abkühlende Spuren über ihre Schläfen, in die Ohren, auf das Kissen. Greuliche Geburtsgeschichten gingen zwischen den Frauen zu beiden Seiten des Bettes hin und her – querliegende Kinder, unverrückbar feststeckende Kinder, Kinder, die zu groß waren, um jemals geboren werden zu können.
    Es berührte sie nicht. Die Schmerzen waren so heftig, daß sie ihren Unterleib für immer lähmen würden. Bei jeder Wehe wurde die Unterhaltung eingestellt, und die Frauen beugten sich über sie, um ihre Beine zu halten und sie zu ermuntern. Sie roch die ungewaschenen Haare ihrer Mutter und fühlte die schwielige Hand der Hebamme auf ihrer Hüfte.
    »Ich sehe das Köpfchen!« rief die Hebamme. »Ihr müßt weiterpressen, er zieht sich jedesmal wieder zurück, wenn Ihr zu früh aufgebt.«
    Sie, wollte sie sagen, sie. Meine Tochter. Die Tochter, mit der ich hier gefangen bin. Wir sitzen in der Falle. Ich kann sie nicht preisgeben, aber ich kann es auch nicht umkehren. Ich werde platzen, zerspringen von den widerstreitenden Bewegungen. Es ist vorbei. Ich kann nicht mehr. Sollen sie doch machen. Ich sterbe. Es ist gut.
    Von ganz weit her hörte sie eine Männerstimme. Eine hochgewachsene Gestalt füllte den Türrahmen. Sie glitt weg. Schwarz.
    Als sie wieder zu sich kam, schaute sie in das bleiche Gesicht von James.
    »Der Kapitän geht besser nach unten«,

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