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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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zwischen den gespreizten Beinen, den Schmerz, der ihr dabei in den Rücken fuhr, mit aufeinandergepreßten Zähnen verbeißend, hatte den Kopf aufs Kissen gelegt und ausgeatmet wie nach einer schweren Anstrengung.
    »Mama?« Nat öffnete die Tür einen Spaltbreit und streckte den Kopf herein. Es dauerte einen Moment, bevor er sie entdeckte; sie sah seinen leicht verärgerten Blick, er zog die Augenbrauen genauso zusammen, wie James es tun konnte, und drehte den Kopf vom Tisch zum Bücherschrank, bis er sie sah. Er trat ein und kam zu ihr herüber, die Trompete in der Hand.
    »Bist du krank? Warum liegst du? Hast du mich gehört?«
    Elizabeth klopfte sachte auf das Sofa und rückte ein wenig zur Seite, damit er sich zu ihr setzen konnte. Hinter den dünnen Haaren, die ihm ins Gesicht hingen, schimmerte seine Kinderstirn hindurch, nicht mehr so makellos wie vor einem halben Jahr, sondern mit kleinen roten Unebenheiten übersät. Auf seiner Oberlippe wuchsen blasse Härchen. Nicht mehr lange, und es wurde Zeit, daß James ihm beibrachte, wie man sich rasierte.
    »Du hast schön gespielt. Fein, daß es so gut geht.«
    Nat strich über den Schalltrichter seines Instruments. Hartland habe einem Kollegen in Portsmouth geschrieben und sich erkundigt, bei wem er Unterricht nehmen könne, wenn er nach dem Sommer dort sein würde, erzählte er.
    »Hartland sorgt für dich«, sagte Elizabeth. »Ich muß auch für dich sorgen. Sobald ich wieder auf den Beinen bin, machen wir uns an deine Kiste. Die Stiefel hast du schon.«
    Nat schaute zu Boden. Er will meinen Bauch nicht sehen, dachte sie. Die Schmerzen in Rücken und Leisten wurden bohrender. Der Junge mußte fort, wie konnte sie mit einem ängstlichen Kind im Haus niederkommen? Wo blieb James? Konnte sie die Hebamme schon holen lassen und von wem? Das Mädchen, das konnte zu ihr laufen, nur war es zu früh. Sie geriet in Panik, das war nicht gut. Nachdenken. Ruhig bleiben.
    Sonderbar, daß das Gedächtnis für die Beschaffenheit von Schmerzen nicht ausreichte. Die Tatsache, daß eine Geburt schmerzhaft war, hatte das Gedächtnis gespeichert, darüber konnte sie sprechen, die schlimmsten Schmerzen, die ich je hatte, konnte sie sagen, wahrheitsgemäß. Aber wie sich das anfühlte, wußte sie nicht mehr. Diese Erinnerung war im Körper selbst verborgen, und der begann sich nun zu regen. Ja, dachte sie, so fühlt es sich an, so war das damals, und so wird es nachher sein. Der Schweiß brach ihr aus.
    »Nach Barking.« Sie sprach keuchend, atmete flach. »Du mußt was zum Anziehen einpacken. Ich gebe dir Geld. Für die Kutsche.«
    Nat sah sie fragend an.
    »Fahr zu Oma. Sag, daß sie herkommen soll. Du bleibst dort.«
    Ihr war übel, und sie fühlte sich elend. Wo war James?
    »Aber ich muß zur Schule«, sagte Nat, »und zur Stunde.«
    Elizabeth biß sich auf die Innenseite ihrer Wange, um den Schmerz in ihren Leisten durch einen stechenderen Schmerz zu überdecken.
    »Nur für ein paar Tage. Zu Besuch. Geh deine Sachen holen, Gib mir mal eben meinen Geldbeutel.«
    Sie lehnte sich tief ins Polster und schloß die Augen.
    Nat sprach in der Küche mit dem Mädchen. Die Küchentür wurde zugeschlagen, Holzschuhe klapperten über die Steine des Gartenwegs, jemand schoß die 'Treppe hinauf, verschob eine schwere Kiste und lief stampfend über die Dielen. Sie hörte alles haargenau, reagierte aber auf nichts.
    Sie versuchte, den Prozeß, der sich in ihrem Körper in Gang gesetzt hatte, anzuhalten, bis ihr Sohn fort war. Er kam mit etwas Schwerem in der Hand herunter, das konnte sie der leichten Unregelmäßigkeit der Schritte und dem langsamen Tempo entnehmen. Er ließ seine Last mit einem Plumps im Flur nieder und trat ins Zimmer, die Jacke lose über der Schulter, die Trompete in einem Futteral auf dem Rücken.
    »Mein Geldbeutel«, sagte sie. Der Junge machte sich auf die Suche: Kaminsims, Fensterbank, Tisch, Nähkorb.
    »Vielleicht in der Küche? In meiner Schürzentasche? Warte, ich helfe dir.«
    Sie ließ die Beine vom Sofa gleiten und stand auf.
    »Du mußt das doppelte Fahrgeld mitnehmen, dann kann Oma auch ihre Reise bezahlen. Auf jetzt, du mußt gehen.«
    Eine Woge warmen Wassers schwappte aus ihr heraus, auf einmal stand sie mit klatschnassen Füßen in einer lauen Pfütze. Nat, auf dem Weg in die Küche, blieb erschrocken stehen.
    »Ich kann ja meine Sparbüchse nehmen.« Er rannte nach oben. Elizabeth setzte sich auf ihren triefnassen Rock. Ganz und gar falsch, dachte sie.

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