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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Daß er die Gesellschaft seines großen Bruders suchte und sich ohne Streit oder Zwang mit der Seefahrtsausbildung abgefunden hatte.
    Doch sie war weder froh noch bekümmert. Sie legte letzte Hand an Nats Ausstattung und nahm der Amme alle Arbeiten bis auf das Stillen ab. Sie mußte dieses Kind kennenlernen. Sie war die Mutter. Eines Vormittags nahm sie den Kleinen mit auf den Friedhof. Er lag schlafend im Gras, während sie die Pflanzen goß und die verwelkten Blüten herauszupfte. Als sie fertig war, setzte sie sich so hin, daß ihr Schatten über ihn fiel. Er schlief. Sie saß. Es geschah nichts.
    Zu Hause lag ein Brief aus Plymouth. Sie übergab das Kind der Amme, die schon wartete, und zog sich in die Stube zurück. Sie erbrach das Siegel, legte die Seiten vor sich auf den Tisch, zog einen Stuhl heran und begann zu lesen.
    Omai weint die ganze Zeit und weiß nicht, ob er verzweifelt oder vielmehr ausgelassen sein soll. Daß er ständig seekrank ist, lenkt ihn zum Glück von seinem. Zwiespalt ab. Ich habe mich eigenartig gefühlt während der Fahrt. In Chatham ging ich feierlich an Bord, die Männer standen Spalier, und die Trommler und Pfeifer spielten. Sie machten etwas daraus. Da freute ich mich, für einen Moment. Sie sind voller Tatendrang. Sie haben Vertrauen. Sie sehen mich und denken: Jetzt geht es los. Trotz der großen Ungewißheit – denn wohin fahren wir, was treffen wir dort an? – glauben sie genau zu wissen, woran wir sind. Ich habe die strengsten Wachen angeordnet. Burney segelte Clerkes Schiff nach Chatham und ließ wegen irgendeines Vergehens gleich jemandem Schläge erteilen. Er bildete sich ein, schon Kapitän zusein. Gestern abend kam er auf ein Glas zu mir in die Kajüte und erzählte von seiner Abreise. Der vor Alter zitternde und bebende Vater war da. Und diese Schwester natürlich. Man mußte sie ihm vom Hals reißen. Ich bin froh, daß wir zu Hause Abschied nehmen konnten.
    Ich schreibe den ganzen Tag Briefe. Jetzt geht es noch. Die Akademie hat mir die jährliche Medaille für den besten Vortrag verliehen! Eine goldene Medaille in einer samtgefütterten Schachtel. Die erwartete mich hier. Ich schicke sie dir. Bewahr sie gut auf, sie verkörpert den Sieg des Sauerkrauts über die Philosophie.
    Der Koch trägt jetzt die Schüsseln herein. Ich habe meine Instruktionen erhalten und unterzeichnet. Es bedeutet nichts, Elizabeth. Gerne hätte ich hier, an unserer eigenen Südküste, auf Gierke gewartet, doch die Instruktionen befehlen mir, ans Kap zu fahren und dort zu bleiben, bis mein Kollege eintrifft. Sie wissen es besser als ich. Ich werde also übermorgen von hier aufbrechen. Dem Geruch nach gibt es Kalbfleisch. Mit jungen Mohren und Schnittbohnen. Das Vieh steht vorerst noch auf dem Achterdeck. Die Tiere brüllen Tag und Nacht.
    Ein dunkler Schemen schob sich am Fenster vorüber. Hatte sie doch schon wieder versäumt, das Kind selbst zu säubern. Sie seufzte, nahm die Papiere vom Tisch und legte sie hoch oben in den Bücherschrank. Sie sah Nat durch den Garten laufen. Er trat lustlos gegen den Stamm der Quitte, pflückte sich ein paar Himbeeren vom Spalier und setzte sich ins Gras. Sein Haar war schon wieder zu lang. Vor seiner Abreise schneiden.
    »Mama?« Er kam in die Stube, noch ein Büschel Gras in den Fingern.
    »Langweilst du dich?« Er zuckte die Achseln, schaute auf seine Hände und wandte sich ab. Sie ging ihm nach, sah, wie er das Gras in den Garten warf und unentschlossen stehenblieb. Jetzt einfach Mutter sein. Himbeersaft in eine Kanne gießen, sich hier draußen mit ihm hinsetzen. Ein Gespräch. Er vermißt Isaac natürlich. Und ihm graut vor seiner Abreise.
    In knapp zwei Wochen würde er fahren, mit Jamie und der für ein ganzes Schuljahr vollgestopften Kiste. Wenn sie schon kaum daran denken konnte, wie sollte er es da ertragen? All die zeitlich begrenzten Verbindungen, Allianzen mit jener trügerischen Patina des Ewigen, die unvermittelt zerfielen, so daß die Welt vollkommen anders aussah und man desorientiert, verwirrt, enttäuscht und mit einem schwer zu erklärenden Gefühl von Beschämung dastand. Wie konnte sie es ihm erklären? Sie verstand es ja selbst nicht. Dinge tun, handeln, das war am besten. Dann gab es etwas, worauf man seine Gedanken ausrichten konnte, eine Aufgabe, die erfüllt werden mußte. Dieses ziellose Herumsitzen, dieses Gestarre auf die blaßgelben Rosen, die mit sinnlosem Optimismus am Zaun emporkletterten, war einfach gefährlich. Der

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