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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Haus für sie, das Kapital und die Rechte an den Reisebüchern auf sie und die Kinder verteilt. Sie hatte angespannt gelesen: Die Söhne würden vom Zeitpunkt ihrer Volljährigkeit an über ihren Anteil verfügen können, meine Tochter oder Töchter nur, wenn sie mit Billigung meiner Frau verheiratet sind. Tochter? Sie verstand das nicht. War er verwirrt? Hatte er versehentlich ein altes Testament mitgenommen? Aber er hatte noch nie ein Testament gemacht, so viel Geld hatten sie nicht gehabt. Töchter? Das Kind war doch jetzt da, geboren und als männlicher Nachkomme eingetragen, bevor James den Notar aufgesucht hatte.
    Plötzlich wußte sie: Er will mich schwanger zurücklassen. Er konnte eine Insel erst verlassen, wenn er dort einen Garten angelegt hatte. Dann konnte er den Abstand zwischen sich und ihr vergrößern, bis in dem leeren Raum keine Möglichkeit mehr bestand, einander zu erreichen. Zurücklassen. Den Rücken zukehren. Im Stich lassen. Loslassen.
    Sie dachte diese Dinge in dem Moment, da sie noch an seinen Körper geschmiegt war, und wußte mit ruhiger Gewißheit, daß es möglich war. Zum letztenmal.
    Er hielt ihre Hand. Sie schwiegen.
    Nat kam in den Garten gerannt. »Er ist da! Ihr müßt kommen!« Er zog Elizabeth am Arm mit. James hob das Baby hoch und folgte ihnen. Vor dem Haus stand die Karosse von Sandwich, die Gepäckablage mit Koffern und Kisten vollgeladen, ungeduldig trampelnde Pferde davor. Omai stieg die ausgeklappten Stufen herunter auf die Straße und fiel James schluchzend in die Arme. Das Kind, eingeklemmt zwischen der Schulter seines Vaters und der glühenden Wange Omais, begann laut zu schreien.
    James reichte Omai sein Taschentuch. »Komm, richte dich wieder her, wir gehen uns verabschieden.« Während Omai sich das Gesicht abwischte, übergab James Elizabeth das Kind. Sein Gesichtchen war wütend gefurcht, das Brüllen hielt an. Elizabeth sah James zu Nat gehen; er zog seinen Sohn an sich, klopfte ihm zu hart auf den Jungenrücken und flüsterte Dinge, die sie nicht hören konnte. Nat nickte.
    Omai ergriff ihre Hand. Sie hielt den Kleinen ungeschickt auf einem Arm, während Omai tief die Knie beugte und ihren Handrücken küßte, ausdauernd. Ihr schwindelte. Dann schob James den schluchzenden Tahitianer in den Wagen; der Kutscher zurrte die letzten Reisetaschen fest; Omai öffnete das Fensterchen, um zu sagen, daß er allen in seinem Land von den Wundern und Wohltaten erzählen werde, die er hier, in Britannien, habe erleben dürfen. »Lebet wohl, hohe Frau Cook!« rief er. Nat hatte Elizabeth das Baby abgenommen und zog sich mit seinem Brüderchen auf die Eingangstreppe zurück – dann stand sie in seinen Armen, der kühle Morgenwind schlug ihr gegen die Wangen, und seine Hutkrempe stieß ihr gegen das Gesicht. »Elizabeth«, begann er. »Geh nur«, sagte sie. »Es ist gut. Geh nur.«
    »Ich laufe von dir weg«, sagte er. »Ich möchte das nicht. Ich kann nicht anders. Ich komme zu dir zurück, sobald ich kann. Ich schreibe dir.«
    »Geh nur«, sagte sie wieder. »Jetzt geh doch, sie warten.«
    Sie wollte ihn sanft in Richtung Kutsche schieben, doch ihre Muskeln gehorchten nicht. Er stieg ein, die Wagentür schlug zu. Alles war grau, das Morgenlicht, die Hausfassade, die Unterseite des Laubs an den Bäumen. Die grauen Pferde setzten sich in Bewegung, der graue Kutscher schwang seine Peitsche, ihr Mann wurde aus der grauen Straße hinausgefahren.
    Einige Wochen später kam Jamie zu den Sommerferien nach Hause. Braungebrannt, mit schnellen und sicheren Bewegungen lief er ins Haus und schaute staunend in die Wiege. »Wie heißt er?«
    »Er heißt Hugh«, sagte Elizabeth, »aber wir nennen ihn Ben.«
    Sie saßen in der Küche und tranken Tee. Draußen flimmerte die Hitze im trockenen Garten, aber hier war es kühl.
    »Sie liegen in Plymouth«, sagte Jamie. »So was Dummes. Ich wäre gern mal an Bord gegangen. Habt ihr den Wilden gesehen, den sie zurückbringen?«
    Nat berichtete von der Abfahrt. »Sein Kleid schleifte durch die Pferdeäpfel, aber das kümmerte ihn gar nicht! Er biß Mama in die Finger!« Die Jungen verschwanden nach oben; sie hörte Nat seinem Bruder die einstudierten Fanfarenstöße vorspielen. Nat hatte seine Musik verloren, die Geige lag schon seit Wochen unangerührt in ihrem Kasten, und sie hatte Nat verloren. So fühlte es sich an. Die Ankunft des Kindes hatte Nat noch weiter von ihr fortgetrieben. Sie sollte froh sein, daß er mündiger, selbständiger wurde.

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