Letzte Reise
Trompetenstunde. Wie geht es Ben? Ich habe noch keinen Freund, aber ich werde mir einen suchen.
Sie hatte den Brief zu den Seiten von James oben in den Schrank gelegt. Wenn James nicht zurückkam, würde sie Nat von der Schule nehmen. Sie erschrak über den Gedanken. Wieso, nicht zurück? Wenn Clerke in Gewahrsam blieb, mußte James schlimmstenfalls geraume Zeit warten. Und dann zurückkehren, um zu sehen, daß sein Sohn die Schule aufgegeben hatte? Wie kam sie dazu? Und doch hatte sie es gedacht.
Eigentlich hätte sie James schreiben müssen, einen Brief an den Hafenmeister dort, an der Südspitze Afrikas. Einen hoffnungsvollen, unterstützenden Brief. Sie tat es nicht. Wovon bin ich so müde, dachte sie, ich habe kaum noch einen Haushalt zu führen, das Kind wird von einer Fremden gestillt, ich tue nichts, aber ich bin erschöpft. Ich könnte meine Mutter besuchen, ich könnte James' Weste fertig nähen, ich könnte – sie setzte sich seufzend unter den Quittenbaum.
Dann kam Hugh Palliser. Sie hatte nicht mehr mit ihm gerechnet; nach der Geburt des Kindes hatte er James für die Namensgebung gedankt und über ihn seine Glückwünsche an die Mutter ausrichten lassen, die noch das Bett hütete. Ein silberner Trinkbecher, in den der Graveur Hugh Cook geschliffen hatte, war zwei Wochen später zugestellt worden. Um die Abfahrt der Resolution herum war sie auf eine Begegnung gefaßt gewesen, nicht wissend, wie sie sich verhalten sollte. Seither hatte sie das Kind Benny genannt, wenn sie an ihn dachte, und damit verbannte sie den Gedanken an den Paten.
Aber nun stand er, auf seinen Spazierstock gestützt, im verdörrten Garten und schaute sie an. Er sah schrecklich aus: alt, müde, abgezehrt. Dennoch lächelte er, und seine Stimme klang überraschend heiter.
»August! Wendepunkt des Jahres! Gute Nachrichten!«
Sofort vergaß sie alle ihre Vorsätze. Distanziert hatte sie sein wollen, unverletzbar, ohne Erwartungen. Ihr Herz tat einen Sprung in ihre Kehle, und ihre Stimme war weg.
»Gestern haben sie Gierke freigelassen. Oder er ist ausgebrochen, da möchte ich mich nicht festlegen. Jedenfalls ist er nach Plymouth abgereist, hat den Pferden die Peitsche geben lassen und beabsichtigt, sofort auszufahren, bei Tag oder Nacht. So ist es, Elizabeth. Endlich.«
Ungebeten setzte er sich auf die Bank. Elizabeth ließ sich neben ihn fallen, keuchend, weinend, lachend. Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Fast unmerklich wiegten sie sich unter den harten, blaßgrünen Quitten gemeinsam hin und her.
»Zwei Monate wird er schon brauchen«, sagte Hugh leise. »Dann noch die Rückreise. Vor Weihnachten wird er nicht hier sein. Im neuen Jahr, das ist realistisch.«
Es waren nur Worte. Aber es war, als fiele ein heilender, lauer Regen auf den verdorrten Garten, eine Rettung, eine Erlösung, als wäre sie endlich wirklich heimgekehrt, und alles wäre gut.
Sie spürte seine Lippen an ihrem Ohr, auf ihrem Hals. Was tat er? Seine Zunge längs ihrer Ohrmuschel, heiße, unverständliche Worte in ihrem Nackenhaar; schwindlig wurde ihr, sie fühlte sich leicht, abwesend, und doch wundersam hergehörig. Er hatte ihre Haube weggezogen und grub mit den Fingern durch ihr Haar, er umfaßte ihr Gesicht, sie sah in seine Augen, und da war nichts anderes, nur dieser Weg, dem gefolgt werden mußte, gut, daß sie ihre Haare gewaschen hatte, wie eigenartig das Sonnenlicht durch die eiförmigen Blätter der Quitte spielte, Augen zu jetzt, Augen zu für den Kuß.
Was tue ich, dachte sie, warum lasse ich mich in meinem eigenen Garten von einem alten Mann anfassen, warum stehe ich nicht auf, schüttele ihn nicht von mir ab, warum trinke ich seinen Speichel, lecke seine Nasenlöcher? Sie dachte an den Arm, seinen nackten Arm. Er legte die Hände auf ihre Brüste. Ja.
Es war so, wie sie sich das Schwimmen in hohen Wellen vorstellte, immer wieder kam sie an die helle Oberfläche und dachte: Niemand wird uns stören, die sauertöpfische Amme kommt erst in einigen Stunden wieder, zwischen uns und dem Küchenfenster stehen dichte Sträucher – dann sank sie wieder in die Tiefe und dachte nicht, bewegte sich nur.
Warum bin ich so glücklich, so erleichtert? Ach ja, James kommt zurück, sein Nachfolger ist unterwegs, fliegt nur so über die Wellen dahin, um James abzulösen, und dann, und dann … Sie erschrak, zog sich abrupt aus der Umarmung zurück und strich ihre Kleidung glatt. Sie spürte ihre Knochen auf der harten Bank.
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