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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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ärgerlich, halb scherzhaft anfuhr: „Mein Gott, man weiß es ja: Kaum hat so ein Greenhorn seine Nasenspitze ins Schauspielhaus gesteckt, will er gleich den Hamlet mimen!“ Und als Gustav errötend den Blick senkte, beeilte sich der Ältere in milderem Ton hinzuzufügen: „Menschenskind, beruhige dich! Kriegst schon auch noch eine nette Sache. Nur, der Karl muss eine geistige Überlegenheit besitzen; mir scheint, dein Freund Johannes könnte das rüberbringen. Die Frage ist bloß: Wie bekommt man euch Rasselbande mitten in den Ferien überhaupt zusammen?“
    „Nichts leichter als das!“ rief Gustav impulsiv und ein wenig zu laut. Freilich hatte das Interesse an den beiden Schauspielern im Waggon kaum nachgelassen; die Leute reckten jetzt sogar die Hälse, als der Junge gedämpft fortfuhr: „Wir haben eine Fußballmannschaft zusammengestellt und spielen fast jeden Nachmittag auf dem Sportplatz Rahnsdorfer Mühle Bayern gegen Vorwärts; für letztere kriegen wir kaum noch eine Elf zusammen...“  
    „Edel!“ rief Erdmann Jansen; das schien sein Lieblingsausdruck zu sein, den er offensichtlich nur dann gebrauchte, wenn etwas seine volle Zustimmung fand. Gustav hätte gar zu gern gewusst, welche Rolle der andere ihm zugedacht hatte, aber Erdmann Jansens Zurechtweisung von vorhin legte ihm Geduld nahe. Sein Gedankengang wurde zudem unterbrochen von der Stimme der Trambahnfahrerin, deren fistelnde Stimme schrillte: „Johann-Hinrich-Wichern-Heim!“
    Gustav, schon im Aussteigen begriffen: „Hier müssen wir aussteigen!“
Der Bungalow des Herrn La Bruyère, dieser anderthalbstöckige Klinkerbau, lag am Rand eines parkähnlichen Gartens, umgeben von einem schmiedeeisernen Zaun, der von einer immergrünen Hecke überwuchert wurde. Als die beiden an dem kunstvoll verzierten Eingangstor anlangten, erblickte Gustav zunächst den alten Theobald, das Faktotum von Johannes´ Vater, der gerade die Rosenstöcke für den zu erwartenden langen Winter zurechtschnitt, die den Weg beiderseits zum Haus säumten. Als Gustav ihn anrief, kam er sogleich angetrippelt. „Ach, der junge Herr Patzke!“ sagte er freundlich grüßend und schloss auf. Dabei gewahrte er nun auch, dass Gustav sich in Begleitung befand, und so hieß er auch Erdmann Jansen willkommen.
    Johannes lag im Sportdress auf der Hollywoodschaukel und war derart in seine Lektüre vertieft, dass er die Ankommenden erst bemerkte, als sie direkt vor ihm standen. Überrascht erhob er sich, als er den Schauspieler wiedererkannte, wobei ihm sein Buch aus der Hand glitt.
    Erdmann Jansen musste hellauf lachen. „Deswegen musst du nicht gleich deinen Schmöker wegwerfen!“ meinte er. Sie schüttelten einander die Hände, und während die Gäste Platz nahmen, hob Johannes den Band wieder auf.
    „Darf ich mal sehen?“ bat der Ältere. „ Auferstehung , so? Respekt! Ist das dein erster Tolstoi?“  
    „Nein, nein, ich kenne schon Anna Karenina von ihm. Ich bin auf ihn gestoßen, als ich in unserer Bibliothek ganz allgemein nach russischer Lektüre suchte und mir dabei ein Biografieband über ihn in die Hand fiel.“
    „Interessant“, meinte Erdmann Jansen nachdenklich. „Ich will dich auch keineswegs nach alter deutscher Tugend in einer Absonderlichkeit zu übertreffen suchen, aber ich bin wirklich auf komische Art auf den Weltliteraten gekommen: In der Schule hatten sie uns den Leidensweg zu lesen gegeben, und als ich dann nach meiner Zeit als Dramaturgie-Assistent bei Heiner Müller selbst die Macht der Finsternis inszenieren wollte, ist mir erst aufgegangen, dass ich es mit zwei verschiedenen Autoren zu tun hatte. Worauf ich den – übrigens im Jahre fünfundvierzig verstorbenen – Alexei beiseite legte, um mich dem Grafen Lew und seinen Romanen und Erzählungen zuzuwenden.“ Er lächelte tiefgründig.  
    „Ich habe die grundsätzliche Erfahrung gemacht“, sagte Johannes, „dass der Inhalt aller Bücher mit lauter Lügen angefüllt ist, die aber dennoch der Wahrheit näher kommen als das real Existierende, die erlebte Wirklichkeit des Einzelnen.“
    „Oder umgekehrt“, lachte der Ältere. „Nun, das ist ein zu weites Feld, über dieses unerschöpfliche Thema müssen wir uns ein andermal bei Gelegenheit in Ruhe unterhalten. Jetzt bin ich dir aber erst einmal eine Erklärung dafür schuldig, warum wir dich so unversehens überfallen.“
    Er hielt einen Moment inne, um Johannes forschend anzublicken, der schon die ganze Zeit den Eindruck machte, als frage er

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