Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Papier.
„Danke schön, Kleines“, flüsterte Herr Heinze erleichtert und bekam gerade noch die letzten Verse aus einer nach Brecht klingenden Kantate mit: „Die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. / Diese sind unentbehrlich“, die, zum Sarg gewandt, die Mimin unten mit edlem Pathos vortrug, um hernach sekundenlang erhobenen Hauptes und unbeweglich verharrend ihren Blick durch die Butzenscheiben des nach Osten ausgerichteten Kirchenschiffes zu werfen, ehe sie auf ihren Platz in der ersten Reihe des Kirchgestühls zurückkehrte.
Hier und da ließ sich dezentes Schnäuzen vernehmen, auch Otto Heinze konnte sich der ergreifenden Stimmung des Augenblicks nicht erwehren und vergaß einstweilen den schmorenden Braten. Mezzopiano – statt pianissimo – einsetzend, ließ er die schweren Takte aus der Stille des Gotteshauses aufsteigen, dabei fallweise ins Fortepiano geratend, weil er daran denken musste, dass, wie so oft bei den Menschen, immer die Besten zuerst daran glauben mussten. Die Ära der immerwährenden Resignation ließ allzu viele Freunde das Zeitliche allzu früh segnen. Da hieß es aufpassen, in Zeiten fortdauernder platonischer Hungersnot die Geisteskräfte zusammenhalten, ansonsten leicht auch noch die körperliche Leistungsfähigkeit auf der Strecke blieb und man sich – Knall auf Fall – selbst in einer solchen Kiste wiederfand. Otto Heinze ließ das Adagio in einer opulenten Fermate austönen, entschloss sich unvermittelt, improvisierend ein paar Takte anzufügen, bevor er mit einem gewaltigen Akkord endigte.
Die Enkelin sah ein wenig belustigt zu, wie ihr Opa von seiner Bank herunterrutschte und wieselflink die Wendeltreppe hinab eilte, so dass sie ihm kaum zu folgen vermochte, um ihm in seinen fadenscheinigen Trenchcoat zu helfen und ihm seine Baskenmütze zu reichen. „Du kommst nicht mit?“ fragte der Alte knapp, bevor er achselzuckend und ohne eine Antwort abzuwarten mit trippelnden Schritten und wehender schlohweißer Mähne durch das kleine Seitentürchen in Richtung der Straßenbahnhaltestelle entwich.
Die Kleine schüttelte den Kopf, hoffend, dass der Großvater die Elektrische noch bekam, um pünktlich am festlich gedeckten Geburtstagstisch mit Hirschbraten Platz nehmen zu können. Sie eilte sich sehr, die Empore wieder zu erklimmen, und richtete, quasi vom besten Logenplatz aus, ihr Augenmerk wieder auf die versammelte Trauergemeinde unten im Hauptschiff der Charité-Kirche zu. Sie wohnte zum ersten Mal einer Totenfeier als Beobachterin bei und hatte im Gegensatz zu allen Anwesenden keinen blassen Schimmer davon, wie es auf einem solchen Begräbnis zuging. Sie wusste weder um die Qual für die unmittelbar Betroffenen noch von der Last für die Trauergäste, die pflichtschuldigst mit unbeweglich-tragischem Mienenspiel da hockten oder betreten herumstanden mit dem einzigen Gedanken im Kopf: Wenn man bloß schon alles vorbei wäre!
Das Mädchen wollte wissen, ob es wirklich zutraf, was sie aus Erwachsenengesprächen herausgehört hatte, dass nämlich die Menschen sich trotz aller Trauer bis zur vollendeten Grablegung gemessen benahmen und ernst und kultiviert, sich hernach stumm und mit tiefem Blick und mit neuerlichem Händedruck von den Hinterbliebenen verabschiedeten, um endlich vernehmlich aufzuatmen, sobald sie außer Hörweite waren, woraufhin sie dann nichts Eiligeres zu tun hatten, als vom Alltäglichen zu reden, wie um sich zu beweisen, selbst noch gesund und munter zu sein, unendlich weit entfernt von jenem Tag, an dem es einen selber erwischt...
Das Mädchen verscheuchte seine Gedanken und wandte sich wieder den Beisetzungsfeierlichkeiten des Herrn Walter Patzke zu, weiland S-Bahn-Triebwagenführer, der im geschlossenen Kiefernholzsarg lag inmitten von sich türmenden Bergen von Blumengestecken aus roten Nelken und weißen Kalla und Kränzen mit angehefteten goldenen Papierschleifen in VEB-Qualität, die aufgedruckt die üblichen Nachrufe verkündeten.
Der Blick der Kleinen schweifte unwillkürlich von der weihevoll verhaltenen Trauergemeinde zu einer im Zwielicht des linken Seitenschiffs stehenden Gruppe von vier verkniffenen Figuren, den Sargträgern, die sich dumpf, apathisch und unfeierlich gebärdeten. Verhutzelt von den Entbehrungen ihrer sechs oder mehr Lebensjahrzehnte blickten sie voll Bekümmernis dem Moment entgegen, da sie den Totenschrein anheben und durchs lange Kirchenschiff würden schleppen müssen. Schließlich war das schon der dritte Verstorbene an
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