Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
diesen montäglichen Spätvormittag des 9. Oktober 1989. Es ging schlichtweg über ihre Kräfte, und sie waren auch schon übereingekommen, zukünftig nur noch einen pro Morgen und höchstens drei Särge pro Tag in Auftrag zu nehmen. Die paar lumpigen Alu-Märker, für die man ohnehin nichts Gescheites zu kaufen bekam, konnten sie gerne schießen lassen, anstatt einen Leistenbruch oder gar Ärgeres zu riskieren.
Die altkluge Beobachterin genierte sich ihrer abschweifenden Gedanken und lenkte ihre Aufmerksamkeit geschwind auf die Gruppe der nächsten Anverwandten des Verblichenen. In der ersten Bankreihe rechts saß zwischen ihren beiden Kindern die Witwe des Toten: Frau Cäcilie Patzke, geborene Lehmann, von ihrem Mann selig und ihren Geschwistern kurz Zilli gerufen. Klein und zierlich mit großen blaugrünen Augen, rot-geädert jetzt und verweint, hielt sie ihr schwarzes, spitzengesäumtes Taschentuch zwischen gefalteten Rembrandthänden an die rote, verschniefte Nase und betete mit unhörbar murmelnden Lippenbewegungen vor sich hin. Dabei starrte sie quer über den Katafalk hinweg auf das hölzerne Kruzifix, das, an Stahlseilen von der Kuppel herunterhängend und frei über dem Altar schwebend, die Kathedrale beherrschte.
Als fromme Protestantin dankte sie Jesus, dem Erlöser der Menschheit, dass er ihren geliebten Mann eines langen, schweren Leidens enthoben und zu sich, in sein immerwährendes Heil geholt hatte – ein wenig zu zeitig wohl, das musste eingeräumt werden; gerade mal vierzig Jahre waren schließlich kein Alter, den Weg allen Fleisches zu gehen. Frau Cäcilie Patzke selbst hatte die Vierzig noch nicht ganz erreicht und gedachte schon jetzt und trotz ihrer zerbrechlichen Erscheinung, mindestens neunzig, wenn nicht gar hundert Jahre auf diesem närrischen Globus zu wandeln. Wenn es aber dem unerforschlichen Ratschluss des Allmächtigen gefiel, ihren Walter heim in sein Reich zu rufen, so musste sie ihm auf Knien danken und alle Heerscharen des Himmels preisen für alle himmlische Güte der dies- wie der jenseitigen Welt.
Von der Seelensubtilität der Witwe Walter Patzkes wusste eine kleine Berliner Göre freilich herzlich wenig. Die Enkeltochter des Organisten schaute zur Rechten der Mutter, wo die elfjährige Kerstin saß. Ein ganz hübsches Mädchen, wie die Kleine fand, etwas blass bloß mit auffallend großen blauen Augen und üppigem, brünettem Kraushaar, das es gebändigt zu einem dicken Zopf mit schwarzer Schleife trug, der über seine linke Schulter zwischen den zarten Wölbungen seiner Brust auf sein Herz herabfiel. Es hielt seine von langen dunklen Wimpern beschatteten Augen gesenkt und lugte nur ab und an auf den Sarg seines Vaters; nur ein einziges Mal wagte es, seinen Blick unauffällig über die Nächstsitzenden gleiten zu lassen. Die Hände im Schoß gefaltet, murmelte es mechanisch Gebete, offensichtlich zu verwirrt, klare Gedanken fassen zu können. Das Mädchen schaute mitgenommen aus nach den letzten ereignisreichen Tagen mit so viel Unruhe und zutiefst Unheimlichem. Und doch schien die Trauerfeier etwas Erhabenes für es darzustellen, wie es so in der ersten Reihe saß, allein mit Mutter und Bruder, als Auserwählte gewissermaßen, respektiert als nächste Angehörige und als Hauptleidtragende, Mittelpunkt vor all den düsteren Gestalten, von denen die Bankreihen angefüllt waren. Sie trauerten – bei Beerdigungen nicht unbedingt selbstverständlich – wirklich um Walter Patzke, wenn auch nicht um den Walter Patzke der letzten Monate; mit seinem Tod war er in allen Köpfen wieder so geworden, wie er einmal gewesen war. Nichts lässt einen Menschen so rasch zum Heiligen werden wie die Tatsache, dass er tot ist.
Obwohl das Hauptinteresse der kleinen Späherin eigentlich dem Erben und einzigen Sohn des Dahingeschiedenen galt, dem knapp siebzehnjährigen Gustav, der zur Linken seiner Mutter Platz genommen hatte, wandte sie sich zunächst kurz den anderen Verwandten des Verstorbenen zu. - Das Beste pflegte sich die kleine Range stets bis zum Schluss aufzusparen. - Die Bekannten und Freunde des Heimgegangenen hatten sich pietätvoll auf die linken Bankreihen verteilt und somit die rechten den engsten Familienangehörigen überlassen.
Da kauerte in der zweiten Reihe direkt neben dem Mittelgang die Schwester Walter Patzkes, die Genossin Anita Haftmann, geborene Patzke, mit ihrem einzigen Sohn, dem zehnjährigen Ernst-Erich, der seine Namensgebung einer enthusiastischen Loyalität
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