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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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gegenüber der modernen Staatsführung verdankte; jedenfalls hatte sich der Großvater der Kleinen so auszudrücken beliebt. Neben Ernst-Erich saßen die drei Schwestern der Witwe, von denen die kleine Heinze lediglich wusste, dass sie – ebenso wie Gustavs Mama – dem nicht nur wegen der langen Schulferien viel beneideten Lehrerstand angehörten. Die Damen glichen sich äußerlich wie ein Ei dem anderen, was auch für die Haarfarbe zutraf: ein falbes flachsblond, durchsetzt bei der ältesten und ledigen von naturweißen, bei den jüngeren aber von figaroblonden Strähnen. Die junge Beobachterin sollte noch mehr von dem Tantentrio erfahren; vorläufig sah sie sie nur in trauter Eintracht nebeneinandersitzen, als wollten sie damit sagen: üb immer Treu und Redlichkeit, dann wird es unsere tapfere Zilli mit den beiden Kindern schon packen! Die Schwestern waren in der Tat entschlossen, fest und treu zusammenzuhalten, und dachten nicht ohne Stolz an drei Abwesende, die dem Toten leider nicht die letzte Ehre erweisen konnten: Der Bruder Walter Patzkes sowie zwei Schwäger standen an der neuen Volksfront in einem anderen letzten Gefecht in Leipzig, um in verzweifeltem Ringen eine andere Beerdigung vorzubereiten – die der sozialistischen Einheitsdemokratur.
    Damit wandte sich die Enkelin des Organisten der linken Kirchenseite zu, wo ihr Blick gleich am Ecksitz der vordersten Reihe auf die schon erwähnte Diva stieß, der Staatsschauspielerin mit Künstlernamen Margot Sonntag, einer geborenen Ulbricht, was der Anlass zu vielerlei Getuschel war. Sie hatte den Platz mit praktischem Bedacht gewählt, um mit wenigen Schritten neben den Katafalk treten und rezitieren zu können, oder vielmehr weil sie als Schauspielerin Wert darauf legte, von allen Plätzen aus gut gesehen zu werden. Bei solchem Anlass den rechten Ausdruck zu zeigen, war sie nicht gewohnt, die Trauer schien ihr das Gesicht zu zerreißen, und sie trug sie wie ein Kostüm, als habe sie sie sich wie den Hut mit dem großmaschigen Schleier eben noch rasch besorgt, ohne lange auszuwählen.
    Die interessantere Persönlichkeit nach Meinung der kleinen Betrachterin war aber zweifellos der Mann an ihrer Seite, der sich äußerst zurückhaltend gab, aber nirgendwo auf der Welt unbeachtet geblieben wäre: Er trug die Mähne eines Dichters und den Charakterkopf eines Bühnenkünstlers, was er beides auch war, allerdings im vorgezogenen Ruhestand, den die omnipotente Führung der Republik vor Jahren schon verfügt hatte. Mit seiner Zurückhaltung wollte er demonstrieren, dass er hier einzig und allein dem Verstorbenen die letzte Ehre erweise, jedoch gewiss keinem der anwesenden staatstragenden Kräfte.
    Dieser liebenswürdige Herr mit Namen Arminius Müller-Eisner war ein guter, wenn nicht der beste Freund von Walter Patzke und Skatgenosse in der Weinstube „Zum Elefant“ - gewesen. Beider Leidenschaft war neben der Damenwelt das Kartenspiel mit den dazugehörenden deftigen Sprüchen über Gott und Regime, worüber sie die übrige Welt vergaßen und in ihrer Stammkneipe, der vormaligen Probierstube der Firma „Mampe“ in der Veteranenstraße, sogar die teuer geliebte Unstruter Spätlese warm und fad werden ließen. Arminius Müller-Eisner warf die Stirn in Falten, da er daran denken musste, dass es mit dem Skatdreschen jetzt wohl für alle Zeiten aus und vorbei war...
    Wie schade, dachte er; der Walter war doch ein wirklicher Freund gewesen, dabei edel, hilfreich und gut, aber vor allem blitzgescheit, nicht wie der dritte Mann, den wir regelmäßig als Notnagel benutzten. Obgleich in Staatsdiensten, war Walter nie antiquiert, pedantisch oder dogmatisch gewesen wie sonst die meisten dieser humorlosen Finsterlinge mit Pfannkuchenhirn in den SED-Ämtern unserer Republik. Jawoll, Walter war fast sogar eine Künstlernatur und zudem ein echter Philosoph, von dem man – ehrlich gesagt – einiges lernen konnte.
    Ach ja, war man ja selbst DEFA-Schauspieler vom Charakterfach – gewesen, hatte auch den Olymp der Mimenkunst, das Deutsche Theater als Staatsschauspieler von innen gekannt und sah sich als Schauspiellehrer in der Nachfolge von Max Reinhardt. Geblieben von den morsch knarrenden Brettern, die die Welt bedeuten sollten, waren also Erinnerungen und eine stattliche Anzahl von Schülern, hauptsächlich aus privilegierten Familien, die immer genauso zahlungskräftig waren wie meist völlig unbegabt; dafür nahm man auch schon einmal harte Devisen für die Intershops.

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