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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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bis ihm das Sinnvolle ihres Handelns bewusst geworden war, als sie mit ihrer kleinen flachen Hand ganz sanft von der Stirn her über die Augenlider des Vaters gestrichen war, sie zu schließen, um damit sinnreich dem Tod sein garstiges Antlitz zu nehmen und den Betrachter glauben zu machen, dass die liegende Gestalt friedlich schlummere. Niemand sollte, dem Toten ins stille Antlitz blickend, erkennen dürfen, wie sehr sein kräftiges Herz, ehe es aufhörte zu schlagen, sich gegen das Sterben gewehrt hatte und dass ein verzweifeltes Ringen und kein friedvolles Hinüberschlummern dem Ende dieses gerade einmal vierzigjährigen Lebens vorangegangen war.
    Da endlich gegen zwei Uhr der Kondukt am großen Tor des Dorotheenfriedhofs angelangt und der Leichenwagen in die beschattete Hauptallee eingebogen war, ging ein vernehmliches Aufatmen durch die Reihen der Trauergäste, denen die noch pralle Hitze der herbstlichen Mittagssonne mittlerweile fast unerträglich geworden war.
    Als wenig später der Sarg mit den sterblichen Überresten seines Vater in die rechteckige Grube abgesenkt wurde, stützte Gustav seine Mutter, die leise vor sich hin weinte. Sie traten zu dritt an das offene Grab, um nach uraltem Brauch mit kleiner Schaufel drei Häufchen Erde auf den Totenschrein zu werfen, was jedes Mal einen hohlen, dumpfen Laut erzeugte, der Gustav unheimlich berührte und ihm noch lange in den Ohren nachklang. Was ihn nicht an der Überlegung hinderte, ob nicht in den Sarg gebohrte Löcher angebracht seien, damit die Würmer rascher an den Leichnam kamen. Seine Mutter ließ sich von Kerstin den Strauß weißer Freesien reichen, um ihn mit langem, Abschied nehmendem Blick in die Grube auf den Sarg fallen zu lassen. Während der lange Aufzug der schwarzgekleideten Gestalten vorbei an Grab und leidtragender Familie defilierte und je nach Beziehung, die zu dem Lebenden bestanden hatte, seinen letzten Gruß entweder in feierlicher Gebärde und mit bedächtiger Verbeugung in die Tiefe oder mit knappem Nicken im gleichförmigen Rhythmus einer mechanischen Prozedur – Schaufeln, Werfen, Weiterreichen – entbot, verfolgte Gustav verstohlen die Gesten der Trauergäste und beobachtete deren unbewegliches, aber gleichwohl vielsagendes Mienenspiel.
    So entging ihm nicht, dass sich der feiste Onkel Heinz den Schweiß von der rosigen Glatze wischte und dem nebenstehenden Arminius Müller-Eisner zuflüsterte: „Verfluchte Hitze für die Jahreszeit! Man gut, dass es gleich vorüber ist!“, was der Andere mit einem kaum merklichen Kopfnicken quittierte. Gustavs Blick blieb einen Moment auf dem würdevollen Antlitz des berufsverbotenen Künstlers ruhen, bevor er sein Augenmerk auf die noch junge Gattin Müller-Eisners richtete und unziemlich lang auf ihr verweilen ließ. Sie trug jetzt leider eine edelsteinbesetzte Goldrandbrille, die ihren feinen Gesichtszügen etwas Hausbacken-Bürgerliches verlieh. Er schwor sich aufs Neue, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um mit der Diva näher bekannt zu werden. Dafür war er sogar bereit, sich von dem aufrührerischen Dissidenten als Schauspielschüler aufnehmen zu lassen, obwohl seine finanziellen Mittel knapp bemessen waren und der würdige Herr bekanntermaßen gerne Valuta entgegennahm, von denen der junge Mann nicht wusste, woher er sie nehmen sollte. Ob er sich nun, da Vati tot war, zu diesem Zweck nicht einmal hinter Onkel Heinz stecken könnte, der ja mit dem Künstlerehepaar auf gutem Fuß zu stehen schien?
    Die beleibte Tante Claudia von der Kulturhauskneipe „Kuhle Wampe“ vom Prenzlauer Berg, wo die Truppe des angejahrten Filmemachers Dünnleder in den ehemaligen Hallen einer Uhrwerkfabrik ihre Ateliers besaß, trat an das Grab und verdrängte Gustavs Wunschbilder. Er hörte sie völlig aufgelöst schluchzen und sah bittere Tränen über ihre rot-geäderten Wangen rinnen, wobei ihm die Klatschgeschichte einfiel, die besagte, dass sie als junges Mädel in seinen Vati, ihren Cousin, unsterblich verliebt war und lange gehofft hatte, ihn heiraten zu können. Deshalb also war sie immer so auffallend nett zu allen Patzkes!
    Tante Claudia ruderte auf die Mama zu, umarmte und herzte sie abküssend, um sodann das gleiche mit seiner Schwester zu tun, nur ausgiebiger und indem sie ihr dabei etwas zuflüsterte, was Kerstin dankbar lächelnd und mit einem artigen Knicks quittierte. Daraufhin trat die Tante zu Gustav hin, fasste ihn mit den Fingerspitzen der linken Hand unters Kinn und zupfte mit

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