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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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durchgegriffen haben! Diese Affenaufstände in Transkaukasien und im aufmüpfigen Baltikum, ja sogar regelrechte Streiks wären bei dem nicht möglich gewesen; der Michail ist und bleibt ein Bauer, ein richtiger Weichling, der wahrscheinlich unter der Fuchtel von Raissa und ihrer Mutter steht. Da nützen all seine Reisen in die Weltgeschichte nichts, wenn er die Armee nicht ordentlich einsetzt, sondern in Afghanistan zerbröckeln lässt. Da soll er sich mal ein Beispiel nehmen an dem Nicolae und seiner Gemahlin in Balkanesien, da wird es in tausend Jahren keine Verbrüderung von Soldaten mit dem Mob geben, geschweige ungeordnete Rückzüge. Da kann man von Pech reden, dass man da nicht dazwischen ist...
    Und der Herr Neffe dort im Sarg hat nie des Führers Rock tragen können, Gnade der späten Geburt, war nicht Pimpf, nur Pionier gewesen, hatte gleichwohl niemals Fahnenuniform überstreifen dürfen, dank seiner Plattfüße. Dafür hat er sich mit der Eisenbahneruniform getröstet und sich nach jedweder Beförderung stante pede in Kluft, Tressen und Abzeichen samt Familie beim Oheim fotografieren lassen.
    An dieser Stelle war der Faden seiner tristen Gedanken durch das Ende der Klänge und einer verhaltenen Unruhe, die ringsum entstand, abrupt abgerissen. Und als auch die DEFA-Schauspielerin nebst Anhang aufgestanden war, hatte Herr Collisy beschlossen, sich dem ungleichen Paar unauffällig zu nähern, um sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu begrüßen.
    Wer weiß, wozu es gut sein kann. Als Diva kann sie sich nicht oft genug auf wirklich guten Aufnahmen sehen lassen, schon wegen der Popularität. Wenn ich ihr erkläre, dass ich ihre Fotografie ganz groß in meiner Auslage gegenüber dem „Ballast der Republik“ ausstelle, wird sie bestimmt anbeißen und wie die anderen auch, die mir die Bude einrennen, bei mir arbeiten lassen; denn eitel sind sie alle, ob Film- oder Theaterleute! Und was den Herrn Gemahl angeht, kann ein gutes Wort nie schaden in Zeiten, da sogar im Kreml aus verbannten Dissidenten oppositionelle Volksvertreter werden. Mein Lehrmädchen bekommt es ja oft genug zu hören: Akquisition und Reklame sind neben Flexibilität das Alpha und Omega im Erfolg bei König Kunde! – Na, sehen wir mal, ob die Herrschaften hereinfliegen...
    Dabei hatte er das privatunternehmerische Getue wirklich nicht nötig; die Menschen, ob groß oder klein, kamen von allein zu ihm, schon wegen des Fotomaterials und der Ersatzteile, die er – manchmal mit wochen-, aber nicht mit monatelanger Wartezeit – auftreiben konnte. Er kehrte den konkurrenzgeplagten Kapitalisten heraus mit seinem Schaufenster und Arbeit„geber“sprüchen wie andere ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse durch märchenäugige Anstecknadeln.
    Der dicke Herr hing noch immer seinen Gedanken nach, als die kleine Enkelin die Reihen der Trauergäste durchhatte und in Ruhe nun den Sohn des Verstorbenen ins Auge fassen konnte, den siebzehnjährigen Gustav. Der Arme war ganz blass und mager. Er hatte ein schmales Gesicht, eingefallene Wangen und dunkle Schatten unter den graublauen Augen. Der hochaufgeschossene Junge saß aufrecht und situationsbewusst zur Linken seiner Mutter, doch konnte seine Beobachterin so wenig wie irgendwer aus seiner undurchdringlichen Miene auf seine innere Verfassung schließen. Beharrlich stierte er vor sich hin. Ein einziges Mal hob er die Augen hoch zum Sarg, nachdenklicher, wie es schien, als trauervoll. Vorhin, als die Diva sich erhoben hatte und neben den Katafalk getreten war, um statt ihres Mannes, wie der Jugendliche annahm, erbauliche Oden zu rezitieren, hatten sich seine Züge unversehens belebt und einen gespannten Ausdruck angenommen. Seine Augen waren an den Lippen der renommierten Schauspielerin, der Frau des Reformers, gehangen, und seine Lippen hatten stumm den vorgetragenen Text nachgeformt. Von den Dichterworten ebenso fasziniert wie von der Deklamation der Starschauspielerin hatten sich seine Wangen gerötet, und Arminius Müller-Eisner, dem der Eifer des Jungen wohl aufgefallen war, hätte sich höchstens für sich selber einen andächtigeren Zuhörer wünschen können als diesen bleichsüchtigen Verehrer seiner Frau, die in gravitätischer Pose mit schräg nach oben gerichtetem Kopf, gleichsam ins Universum schauend, mit routiniert-belegtem Alt hehre Verse sprach. – Sie ist erkältet, war der Gedanke des kleinen Mädchens gewesen.
    In Gustavs innerem Ohr klangen noch immer die letzten Takte des

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