Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
aus der bewegten, gedämpften Atmosphäre aufgestiegenen Adagios nach, als die Diva geendet hatte, nicht ohne noch ein paar Sekunden verharrend dem Klang ihrer Stimme nachzulauschen. Er fühlte, dass die wunderbare Musik Schostakowitschs die Menschen unwiderstehlich in ihren Bann gezogen hatte, und alles Empfinden und Gedenken sich auf den vor ihnen in ewiglichem Schlummer Ruhenden richtete. Die tief anrührenden Klänge, beschwörend und heiter, aufwühlend und friedlich zugleich, hatten in Gustavs Erinnerung Szenen seiner frühen Kindheit aufsteigen lassen. Wie der Vater allabendlich an sein Bett trat, um ihm sanft über den Haarschopf zu streicheln und einen Kuss auf seine Stirn zu drücken; wie der Junge, schon im Einschlafen, die väterliche Zärtlichkeit spürte und die liebe, sonore Stimme vernahm, die leise nichts weiter flüsterte als: „Mein Täve“ oder „Schlaf gut!“ und die ihn einhüllte in Liebe und Wärme, ihn glücklich lächeln machte und versinken ins Reich der Träume...
Die anhaltende Stille ließ jetzt die Trauergesellschaft langsam aus ihrer gedankenvollen Erstarrung erwachen. Die verhärmten Greise begannen die Kränze und Sträuße beiseitezulegen, während die Küsterin das schwarze silberbestickte Bahrtuch vom schlichten hellbraunen Kiefernsarg abnahm. Die Trägerschar hob den Totenschrein an und setzte sich gemächlich Richtung Kirchenportal in Bewegung. Ein mächtiger, lang anhaltender Akkord förderte ihr gottgefälliges Tun, der zunächst ein wenig dissonant, dann immer harmonischer sich gestaltend das Münster bis in die äußersten Winkel der hohen Gewölbe erdröhnen, die Menschenkinder aber bis ins innerste Mark ihrer Seelen erschauern ließ.
Selbst der Nachhall hatte etwas bedrückend Endgültiges und Unwiderrufliches wie eben das Sterben selbst. Das empfand weniger die Enkelin des Kantors, die en passant den Blasebalg betätigt, sich mit einem Händchen auf irgendwelchen Tasten abgestützt und unbefugt diesen unerwarteten Schlussakkord erzeugt hatte, als vielmehr vor allem Gustav, dem die Kleine durch ihr eigenmächtiges Eingreifen in die weihevolle Handlung ungewollt unbehagliche Schauer über den Rücken gejagt.
Gespenstig und jenseitig mutete das Tapsen der Träger mit dem in ihren Händen bedenklich schwankenden Sarg und die schlurfende Vorwärtsbewegung der Trauergäste auf den Steinfliesen an und zwang dem hinterdrein trottenden Gustav vor sein inwendiges Auge die Szene, in welcher der schmutzige alte Totenfährmann Charon in der griechischen Mythologie einen Verstorbenen in seinem zerbrechlichen Kahn über den Styx ruderte, um ihn durch einen Schluck Wasser aus der Lethe das irdische Leben vergessen zu machen.
Als der Trauerzug das Kirchentor passierte, spürte Gustav ein aufmerksames Augenpaar auf sich ruhen, und magnetisch angezogen wandte er den Kopf dem Betrachter, seinem fast gleichaltrigen Schulkameraden und Freund Johannes La Bruyère zu, der sich still und unauffällig dieser Trauergemeinde angeschlossen, es aber vermieden hatte, sich der Familie des Verstorbenen zu nähern.
Das war keineswegs Gleichgültigkeit, wie Gustav wusste. Der Blick von Johannes bestätigte das Gegenteil auf eine Weise, wie es Worte niemals auszudrücken vermögen, und ließ ihn eine gewisse Beschämung fühlen vor dem Freund; seine Trauer um den Vater dünkte Gustav armselig im Vergleich zu dem Mitgefühl, das aus den Augen von Johannes sprach. Auch in diesem Augenblick spürte er wie schon so oft bei anderen Gelegenheiten die Überlegenheit des solideren, tiefer empfindenden Charakters als unausgesprochenen Vorwurf gegen seine eigene lockerere Lebensart, die Dinge des Daseins zu nehmen. Gleichwohl wollte er den Freund auf die Jazzschallplatten – dem verstorbenen Vater gehörend und dem Sohn jetzt als Reliquie geltend – ansprechen, die er Huschke ausgeliehen.
Mit diesem Gedanken trug er sich noch, als sich der Leichenwagen – gezogen nach dem letzten Willen des Toten von zwei knochendürren, gebrechlichen Gäulen – auf der Hannoverschen Straße Richtung Dorotheenfriedhof langsam in Bewegung setzte. Den erbarmungswürdigen Kleppern schien schon die übergeworfene schwarze, silberbestickte Schabracke eine zu schwere Bürde für ihre von lebenslangem Mangel und kärglichem Gnadenbrot ausgezehrten Leiber. Gustav dünkte sich einmal mehr als janusköpfiges Wesen, dessen zwei konträre Eigenschaften einander offenbar unversöhnlich gegenüberzustehen schienen. Wie schon so
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