Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
unbeholfenen Diener vor ihr machte, Gustav aber mit einem in seinen Flaum gebrummelten „Grüß dich, Täve“ kräftig die Hand drückte.
Beim Anblick Michaela Schumanns spürte Gustav sein Blut siedendheiß in seine Wangen schießen; die junge Frau übte eine wundersame Wirkung auf ihn aus, denn seitdem ihr Mann als politischer Aktivist an der Leipziger Front stand und sie auch für die Familie Patzke die Wäsche besorgte, gefiel sie sich jedes Mal, wenn Gustav beim Tragen des Korbs helfen musste, an der veralteten Waschmaschine herumwurstelte oder ihr sonst wie zur Hand gehend mit der Strohwitwe zusammentraf, darin, ihn zu necken und mit ihm zu flirten, und hatte Freude daran, ihn damit verlegen zu machen, weil sie längst um ihre betörende Ausstrahlung auf den Jungen wusste.
Diesmal aber versuchte er während der gesamten Busfahrt vergeblich, einen Blick von ihr zu erhaschen, und schämte sich sogleich, selbst in dieser ernsten Stunde solch begehrlichen Vorstellungen nachzugehen. Nichtsdestotrotz wusste er es nach der Busfahrt so einzurichten, sich etwas zurückhängen zu lassen, um nach einer kleinen Viertelstunde die Reihenhäuser sieben bis elf der Dorfstraße, wo die Patzkes wohnten, gleichzeitig mit Michaela Schumann und Willi zu erreichen, die denselben Heimweg hatten und ihnen nachgekommen waren. Er ließ die beiden vorbeigehen, während er ihnen stumm zunickte, und empfing den erhofften Blick der jungen Frau, die ihn freundlich zurückgrüßte. Bevor er Mutter und Schwester ins Haus nachfolgte, ließ er die schlanke Frauengestalt in dem enganliegenden dunkelroten Kleid keinen Augenblick aus den Augen, bis sie um die Ecke in die Kruggasse verschwunden war. Dieses Sträßchen war ein gottverlassener Winkel, der eigentlich nur aus drei kleinen Vierfamilienhäusern neueren Datums ohne jedweden Komfort bestand und dessen Bausubstanz als äußerst erbarmungswürdig zu bezeichnen war. Ein Besucher, der aus dem dunklen Schlauchende der Dorfstraße in die helle Sonne trat, sah sich links hinter dem Rahnsdorfer Kirchlein unvermittelt mit der winzigen zweistöckigen und flachdächerigen Mietskaserne konfrontiert, denen achtstöckige Wohngebäude, Bürgerhäuser der Vorkriegszeit, geringschätzig ihre fensterlosen Feuermauern zukehrten, obwohl ihre Fassaden durchaus nicht auf einen besseren baulichen Zustand schließen ließen. Sie kaschierten eine grasbewachsene Sackgasse, in der eine bleichhäutige, fehlernährt aussehende Kinderschar spielte. Das Gassenende bildete ein halbverfallener, durch ein verrostetes Vorhängeschloss gesicherter Schuppen, der den direkten Zugang zur Müggelspree versperrte und in dem durch Bretterritzen und -lücken ein landwirtschaftlicher Leiterwagen aus vorgenossenschaftlicher Zeit zu sehen war, der für herrenlos galt. Einzelne Planken hatten längst eine andere, praktischere Verwendung gefunden, wenn sie nicht gar verheizt worden waren, so dass die alte Remise zu jeder Jahreszeit ein bevorzugtes Versteck bot für die Kinder der Kruggassensiedlung, die ihre „Burg“ und damit auch den Zugang zum Wasser gegen nachbarliche Rivalen zu verteidigen wussten.
Die ganze schäbige Wohnanlage machte noch immer einen unfertigen, ja chaotischen Eindruck, was auch die Nummerierung von zwei bis sechs der drei doppelstöckigen Häuschen manifestierte; die ungeraden Zahlen fehlten, weil der gegenüberliegende Grund entgegen dem vorletzten Fünfjahresplan unbebaut geblieben war.
Vor zehn Jahren war mit dem Bau der Siedlung anlässlich der Feier des dreißigsten Jahrestages der Republik unter dem Stadtbezirksbürgermeister Zielinsky, dem „charmanten Zille“, wie ihn die Berliner nannten, begonnen worden. Als der aber nach drei Jahren das Zeitliche segnete, setzte sein Nachfolger aus Gründen der Finanzpolitik andere, undurchsichtige Prioritäten, in deren Folge die Bauarbeiten nach Fertigstellung der einen Seite eingestellt wurden. Dafür rauchten die Schornsteine der drei Blocks schmutziggelb, aber mit gutem Grund. Die fest eingeplante Erneuerung der verlotterten Gasleitung zur Kruggasse nämlich scheiterte an Problemen des Materials, das zwar kaum verspätet geliefert, aber sogleich wieder abgeholt und für die Privatdatscha eines Direktors „abgezweigt“ worden war. Hier bewährte sich das alte System, denn beim vormaligen Einbau der Gasheizungen hatte man die Kanonenöfen in weiser Voraussicht unangetastet gelassen, was die Bewohner heute noch instand setzte, ihre Öfen wieder mit
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