Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
häufig in bestimmten Situationen, und oft bei den unpassendsten Anlässen, beobachtete er kühl-gelassen und begierig-interessiert Vorgänge, die andere durch ihre Dramatik schmerzlich erstarren ließen oder ganz und gar überwältigten. Er hingegen trat dabei sozusagen aus sich selbst heraus, wurde zum Unbeteiligten, der ohne innere Anteilnahme, in anarchistischer Unbefangenheit und mit zwingender Neugier alle Zusammenhänge der Umwelt aufzuspüren trachtete. Dieser kolossalen Verlockung konnte er gerade deshalb nicht widerstehen, weil keinerlei Emotion die Klarheit der Beobachtung trübte. Wenn er sich dann aber dieses absonderlichen Zustandes bewusst wurde, quasi wieder in sein Selbst hineintrat, überkam ihn eine ungeheure Scham, so dass er sich gefühlskalt schalt und unfähig einer wertvolleren Regung. Andererseits vermochte er bei weit nichtigeren Anlässen, wie Folkloremelodien, bestimmten Filmmusiken, aber auch bei feierlichem Chorgesang und Orgelspiel, in einen Gefühlsrausch heftigster Sentimentalität zu verfallen, sie allerdings meist für Ergriffenheit haltend.
Noch eben waren ihm bei den Klängen der Orgel solch wohlig-herb anrührende Schauer den Rücken hinuntergelaufen, doch nun schritt er wieder kaltblütig neben Mutter und Schwester hinter dem Leichenkarren mit dem Sarg des Vaters her und ärgerte sich gleichwohl, an dieser skurrilen, Aufsehen erregenden Prozession, die beinahe wie eine Demonstration anmutete, teilnehmen zu müssen. Das Laub war fast vollends von den Bäumen gefallen, und unter seinem Teppich war schwierig zu unterscheiden, wo die Wege endeten und die Gräber begannen. Gustavs trüben Gedanken wurden weggespült durch eine sich vor seinem inneren Auge abspielende Szene, die sich vor vier Tagen ereignet hatte, als sein Vater gestorben war.
Verstört war er aus tiefem Schlaf gefahren, hatte in das tränennasse Gesicht seiner Mutter, die ihn geweckt hatte, geblickt und sogleich begriffen, was geschehen war. Vater lag scheinbar bewusstlos mit bis auf einen schmalen Spalt geschlossenen Augen im Schlafzimmer und atmete röchelnd und stoßweise. Immer unregelmäßiger ging sein Atmen, immer länger wurden die Pausen zwischen den Atemzügen, und schließlich drohte der Atem ganz auszusetzen. Ein letztes Mal noch versuchte der Sterbende mit verzweifelter Anstrengung tief Atem zu schöpfen, seine Brust bäumte sich mühselig auf, um dann langsam aber stetig in sich zusammenzufallen. Die Augen des Todgeweihten öffneten sich vollends in einer letzten desperaten Rebellion gegen Schnitter Tod, starrten leer, glanz- und blicklos.
Mit gespannter Neugier hatte Gustav dies alles verfolgt, so wie man etwa den Verlauf eines Experiments in Physik- oder Chemiesaal der erweiterten Oberschule zu beobachten pflegte, wenn Oberstudienrat Saeckel seine Mixturen quirlte – nicht anders: nicht ergriffen gar oder erschüttert, sondern lediglich gepackt von zwingender Neugierde für dieses Phänomen, das sich „Sterben“ nannte. Gustav war durchaus zu rein sachlichen Feststellungen in der Lage: dass der Vater nach dem Lebensodem japsend letztmalig aufbegehrte gegen das Absterben, sein morbider Körper zusammensackte, seine Augen starr verhielten, dass sein Erzeuger am Ende war – tot. Jetzt ist er tot, dachte er. So ist das also, wenn ein Mensch stirbt. Erst das Aufschluchzen der Mutter, die, neben das Bett auf die Knie gesunken, die Hände vor das Gesicht gefaltet, darangegangen war zu beten, hatte ihn erfassen lassen, dass er jetzt in eine gänzlich neue Situation treten würde, in veränderte Verhältnisse, die ihm Entscheidungen abverlangten.
Gewaltsam hatte er sich einen Ruck gegeben – ich straffe meine Seele, hatte er gedacht – und sich zu seiner knienden Mutter hinabgebeugt, um sie zu sich emporzuheben, sie in die Arme zu schließen und in dieser Stellung zu verharren, bis sich ihr rasend klopfendes Herz ein wenig beruhigt hatte. Er war außerstande gewesen, ein einziges Wort zu sagen, da er kein Mitleid empfunden hatte und keine Anteilnahme, weder mit ihr noch mit sich, auch nicht mit seiner Schwester, die vor Tagen schon zu Verwandten nach Leipzig fortgebracht worden war.
Als der junge Mann seine Mutter aus dem Zimmer hatte führen wollen, hatte sie energisch widerstrebt und sich von ihm gelöst, mit Blick auf den Leichnam ihm bedeutend, dass da verschiedenerlei zu besorgen sei. Verständnislos hatte er sie ein Tuch aus der Kommode hervorholen und damit das Kinn des Toten hochbinden sehen,
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