Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
aufatmend in der Türschwelle stehen.
Sie ließ den Wortschwall ihrer Nachbarin und Freundin geduldig über sich ergehen, redlich bemüht, freundliches Verständnis zu zeigen, soweit ihr das nach zermürbenden Verhandlungen mit der Betriebsleitung in der Bernauer Landmaschinenfabrik und der anschließenden Heimfahrt überhaupt noch möglich war. Der Kopf schwirrte ihr von den darauffolgenden erregten Diskussionen der Kollegen in der S-Bahn, die überlaut geführt werden mussten, einmal wegen des Ratterns der Waggons und weil alle durcheinander sprachen. In allen Gliedern spürte sie noch die rhythmischen Stöße von den Gleisen und Weichen. Zweimal täglich, sommers wie winters, ob Tag- oder Nachtschicht, musste der in der Hauptstadt wohnende Teil der Belegschaft diese Strecke zurücklegen. In den Wagen war es stickig, und heute war noch diese unzeitige Schwüle hinzugekommen. Trotzdem gelang es ihr, das nötige Interesse für die Freundin aufzubringen. „Da freue ich mich für dich, Ela“, sagte sie in ihrer warmen, mütterlichen Art, „hoffentlich bekommst du sobald nicht wieder neuen Ärger wie mit den beiden Habaneros.“
„Das hat mir gereicht“, bestätigte Michaela kopfnickend.
Oben von der Wohnungstür platzte ein Mädchen dazwischen: „Mutti, Mutti, du kommst aber spät heute!“ Es kam im Schlafanzug ans Treppengeländer getappt. „Ich hab so auf dich gewartet, und weil es so warm ist, konnte ich nicht einschlafen. Ich habe was zum Essen für dich hingestellt. Der Tee ist vielleicht noch warm. Hast du in der Kantine was essen können?“
„Wie du siehst, Ingrid, bin ich noch nicht vom Fleisch gefallen“, gab die Mutter in ihrer scherzhaft-abwehrenden Art zurück. Zur Freundin aber sagte sie, indem sie ihr die Hand auf die Schulter legte: „Na, dann mach´s gut, Michaela, mir reicht´s für heute. Und schlaf gut und träum schön!“ Und stieg langsam die knarrenden Stufen nach oben.
„Danke gleichfalls“, rief Michaela ihr nach und fügte rasch die Frage hinzu, die ihr schon bei Janines Erscheinen auf der Zunge gelegen hatte: „Du, was habt ihr eigentlich erreicht, kriegen wir die Leistungszulage?“
Janine wandte sich auf halber Treppe um. In Dämmerlicht, das durch das Korridorfenster über der Eingangstür auf sie fiel, wirkte sie mit ihrem schmalen Gesicht, eingefallenen Wangen und großer Hakennase älter, als sie mit ihren sechsundvierzig Jahren war. Doch dieser Eindruck verwischte sich sogleich, wenn sie in gewohnter Ruhe und Klarheit, die sie nie verließen, erwiderte: „Morgen früh um acht bekommen wir Bescheid; dann trifft sich die Betriebsgewerkschaftsleitung, die uns den Beschluss der Konfliktkommission überbringen wird. Schlecht sieht es aus: Alles läuft auf Lohnerhöhungen hinaus, für die wir uns nichts kaufen können, und auf die schönen Versprechungen vom Genossen vom Zentralkomitee, baldmöglichst Verhandlungen aufzunehmen, um die Chose nach Wochen in die Volkskammer zu tragen. Soviel haben sie uns zugesagt. Aber wie du wissen solltest, geht es vielmehr um die sofortige Beendigung der verhängnisvollen Kaderpolitik, nach der die linientreuesten Apparatschiks auf Führungsposten gehievt werden, statt die qualifiziertesten Leitungskräfte zu wählen.“
Als die von ihr auch für konformistisch eingeschätzte Michaela mit offenem Mund und verständnislosem Blick dastand, stieg die Ältere schulterzuckend nach oben.
„Hornberger Schießen also“, rief Michaela ihr nach, und als sich oben die Tür hinter den beiden schloss, verriegelte sie die Haustür, seufzte tief und ging langsam in die Küche. Nun erst wurde ihr bewusst, dass sie über dem Besuch des Warschauers und der anschließenden Reinigung des Zimmers nicht zum Essen gekommen war.
Während sie kalte Kartoffelpuffer mit Apfelmus verspeiste, träumte sie von überbackenen Bananen, richtiger Butter und Orangenmarmelade. Beim Abwasch nahm sie sich vor, Janine möglichst wenig von dem schnieken Polacken zu erzählen, weil sie deren kritische Einstellung zu den Devisenspekulanten, den sogenannten „Kaltkriegsgewinnlern“, kannte. Sie selbst war zwar gleichgültig gegenüber allem, was mit Politik zu tun hatte, die sie als Männersache betrachtete; aber so viel gesunden Menschenverstand besaß auch sie, zu erkennen, dass die Geschäfte dieses Herrn Kloczowski nicht die saubersten sein konnten. Kein ehrlicher Mensch hatte seine Brieftasche so vollgestopft mit Geld, mit illegalem noch dazu. Aber darüber und womit
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