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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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ernüchtert und um so grausamer in die Wirklichkeit zurückzusinken...
    Gustav verlor sich also keineswegs in solch düstere Abgründe künstlerischer Geschicke, denn nun zog das Angesicht des Schauspielers neben der Alten seine ganze Aufmerksamkeit auf sich: Bei genauerer Betrachtung wies es scharfe, fast asketische Züge auf und etwas eingefallene, blasse Wangen; seine kräftige Nase war gleichwohl schmal und ein wenig gebogen, ihre Spitze zum Kinn abfallend, das, in der Mitte tief eingekerbt, vorsprang und auf Gustav den ersten Eindruck ziemlicher Willensstärke bestätigte. Beherrscht wurde dieses Schauspielergesicht von den dunklen, ständig funkelnden Augäpfeln, die wie Raubvogelaugen ungemein scharf, durchdringend und etwas unterkühlt blickten. Sie ließen den Mann wohl auch älter erscheinen, als er tatsächlich war, überhaupt war sein Alter schwer zu bestimmen, und Gustav schätzte ihn auf vielleicht Anfang dreißig.
    Während der Junge so ganz noch im Bann dieser Persönlichkeit stand, verdüsterte sich jählings der breite Streifen Sonnenlichts, als nämlich durch die Doppeltür ein riesiger Schatten auf die Dielen fiel, und hereintrat in voller Größe: Carl Magnus Dünnleder.
    Beiden Vornamen machte er alle Ehre, jedenfalls was seine Gestalt und seinen Charakter betraf. Vor fast genau fünfzig Jahren hatte der Spieß, der seine nackten Rekruten bei der Musterung an der Latte maß, vor versammelter Mannschaft festgestellt, dass dieser Dünnleder die Norm weit überrage und mit seinen einsneunundneunzig eigentlich nicht an die Front, sondern in die Leibstandarte Adolf Hitlers gehöre. Worauf der Gepriesene vernehmlich „nein danke“ sagte und auf den insistierenden Blick des Hauptfeldwebels hin ausführte, dass jenes Ansinnen zu viel der Ehre für ihn bedeute, weil eben doch ein Zentimeter fehle.
    Am heutigen Tag, noch bevor er Frau Dünnleder sagen hörte: „Aha, da kommt ja unser Opa“, riss es den Jüngling Gustav von seinem Platz.
    Jedermann, der in der Bühnen-, Film- und Fernsehwelt bewandert war, wusste sehr gut, dass es die „Luftverdrängung“ ausmachte! Solche Fleischbrocken gingen weg wie warme Semmeln, wurden von den Theater- oder Filmgewaltigen sozusagen nach Gewicht gekauft und hatten schon gewonnen, wenn sie stumm und wie ein Grizzlybär über Bühne oder Leinwand gestapft kamen; stellten manche von ihnen auch nur mittelmäßige Schauspieler dar, so vermochten sie sich doch ein Leben lang an den berühmtesten Bühnen und bekanntesten Studioateliers zu halten, während es die leibarmen Kollegen schwer hatten neben so einem Koloss und ihr Künstlerheil zum Teil in westlicheren Gefilden suchten.
    Gustav stand wie festgewurzelt, gebannt vom Anblick des Herkules mit dem mächtigen, von Weißhaar umwallten Haupt, der himmelhohen durchfurchten Stirn und der breiten, rotgeäderten Nase über den fleischigen, sinnlichen Lippen, und der junge Mann musste denken: Wie der olle Joethe uff dem Bild über dem Sekretär von Papa schaut er her; und wurde sich überhaupt nicht der Blasphemie seines Vergleichs bewusst.
    Da bat ihn auch schon die Frau des Chefs, näher zu treten, und stellte ihn vor: „Carl Magnus, das ist der junge Mann, der bei den letzten Aufnahmen sich nicht enthalten konnte, so spontan zu applaudieren, wenn du gespielt hast!“
    Eine bessere Empfehlung konnte es bei dem Alten gar nicht geben, obwohl Gustavs enthusiasmierter Beifall damals ein rundes Dutzend Klappen gekostet hatte. Maestro Dünnleder jedenfalls nahm sogar seine Havanna aus dem Mundwinkel, was selten genug vorkam, es sei denn, er stand gerade vor der Kamera, und Gustav sah, wie seine kleinen Äuglein, die an den glanzlosen Blick eines uralten Zirkuselefanten gemahnten, ihm freundlich zublinzelten. Und des Maestros grollender schwarzer Bass klang hohl wie aus einer Gruft, als er narzisstisch, mit rollendem Zungen-R brummte: „Soso, ein jugendlicherr Kunstdithyrrambist, frreut mich, frreut mich sehrr, jungerr Mann!“ Damit reichte er Gustav seine fleischige Flosse, um das Händchen des anderen kräftig zu schütteln. Derweil seine Frau ihm Gustavs Bitte vortrug, den Probeaufnahmen beiwohnen zu dürfen.
    „Wenn es weiterr nichts ist“, strahlte der alte Riese. „Natürrlich, jungerr Frreund, wirr prrobierren gerrade Die Rritterr derr Tafelrrunde von Chrristoph Hein, dem Sohn eines ehemaligen besten Frreundes meinerr Wenigkeit aus längst verrgangenen Tagen und dem Moskauerr Exil; wirr haben damals manch Gläschen

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