Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
„Es geht schlecht“, hatte der Goliath erläutert, „es ist nurr ein Librretto vorrhanden, aus begrreiflichen Grründen, wie Sie sehrr gut wissen.“ Gustav wusste nicht, dass das originale Textbuch in Verwahrung der Staatssicherheit weilte, bekam nur zu hören, der Rollenauszug sei in Besitz von Kurt, der ihn erst nach der Nachmittagsprobe aushändigen könne; bis dahin müsse er sich eben gedulden. So wagte er nicht mehr danach zu fragen, wann er denn wohl auch vor der Kamera stehen würde, und obwohl er das zu gern gewusst hätte und auch lieber die Rolle in ihrer Gesamtheit gelesen hätte, war er´s zufrieden und beeilte sich, Onkel und Tante diese erschütternde Neuigkeit mitzuteilen, wobei möglicherweise sein ihn bereits wieder quälender Hunger ein gerüttelt Maß beitrug.
Nachdem er einen Linseneintopf mit Einlage verdrückt hatte, bummelte er am Ort herum, ging hinauf zum ganze fünfzehn Meter hohen Windmühlenberg an der Prenzlauer, Ecke Saarbrücker Straße und wieder hinunter zum Volkspark am Weinberg. Unterwegs kehrte er ein in den Bierkeller Vier W und trank eine Weiße; das bedeutete gleich das erste W. Nummer zwei war der Wein, der früher tatsächlich an den Hängen des Barnim, wo die Weinbergparzellen der Berliner Feldmark lagen, angebaut wurde. Es musste sich um ein vielseitiges Gesöff gehandelt haben, das man aus den Reben „uffm Berch“ zog. Gustav las es auf der Vorderseite der Weinkarte: Da gab es Fahnenwein, Dreimännerwein, Maskenwein und Kriminalwein. Die Rückseite enthielt die entsprechenden Erläuterungen:
„Wenn ma een eenzijes Achtel über die Fahne jießt,
so zieht et det janze Rejiment zusamm´.
Wenn een Mann ihn jenießen soll,
so müssen ihn zwee andre halten!
Jut zu benutzen, bevor ma zum Maskenball jeht,
weil man solche Jesichter danach schneidt,
det een keen Mensch mehr erkennt.
Wenn ma Flaschen zwölwe dieser moralischen Sorte
in een Jefängnis legt, so jestehn am anderen Dage
sämtliche Vabrecher.
Adolf Glasbrenner, anno 1840.“
Vor Wein und Weiße war es der Wind, der den „Berch“ berühmt machte, der kein rechter ist und an dessen Fuß erst recht kein Prenzlau liegt, denn der Ort befindet sich gut hundert Kilometer weiter in der Uckermark. Doch früher standen „uffm Berch“ die Windmühlen Berlins, bis sie nach und nach abbrannten; jetzt wären sie überdies ganz überflüssig, da der Ostwind nun über die atomstromversorgten Mehrfamilienhäuser der Anhöhe hinweg gen Westen pfiff. Das vierte W – last, not least – gab ein schönes und frühes Lehrbeispiel ab für geplante Wirtschaft. Im letzten Jahrhundert nämlich war Alexander von Humboldt noch in königlichem Auftrag nach Paris und London gefahren, um die dortige Wasserversorgung zu inspizieren. Seine daraufhin erstellten Pläne, genauer: deren Ausführung, waren dem Magistrat zu kostspielig gewesen, worauf profitwitternde britische Firmen in die Bresche gesprungen und eine Pumpanlage im Stralauer Viertel gebaut hatten, dazu ein Bauwerk auf dem Windmühlenberg, das einen Wasserturm vorstellen sollte. Das Türmchen war so schmal geraten wie ein Handtuch und dabei nicht hoch genug; kurz: eine Pleite, ein wahrer Schildbürgerstreich, der bald die Hälfte der Berliner Bevölkerung wortwörtlich auf dem Trockenen sitzen ließ, weil der Wasserdruck nur zu den ersten Obergeschossen hinaufreichte. Den prekären Umstand vermochte eine clevere Stadtregierung trefflich und unwiderlegbar zu dementieren und als Errungenschaft darzustellen: Die Hälfte der Berliner sitzt keineswegs auf dem Trockenen, sondern ist mit Trinkwasser bestens versorgt!
Nach dem Schankbier setzte sich der Junge schließlich auf eine Bank unter die Einsame Pappel am Rande des Exer , dem heutigen Jahn-Sportplatz, der früher als Exerzierplatz gedient hatte. Von hier konnte er über den Berliner Prater bis zum Fernsehturm sehen. Doch hielt es ihn nicht besonders lange, da ihn ständig aufkommende Zweifel umtrieben, ob die Mama so kurz nach Vaters Tod ihre Einwilligung zu seiner geplanten Schauspielerkarriere geben würde; daran hatte er in ersten Überschwang der Freude überhaupt nicht gedacht! Wer wohl konnte sich für Mamas Erstgeborenen bei ihr verwenden?
Zuerst kam ihm Onkel Heinrich in den Sinn, doch in der Kürze der Zeit würde das mit jeder Menge Schwierigkeiten verbunden sein.
Johannes! Aber klar doch, Huschke! Dass ihm das nicht gleich eingefallen war! Johannes La Bruyère stand bei der Mutter hoch im Kurs: Er
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