Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
wandte sich um und rief herausfordernd: „Wetten, dass ich recht habe? Ich zeig´ euch die Stelle im Drehbuch, kommt nur mit!“
Die Ankömmlinge verschwanden, ohne Gustav bemerkt zu haben, hinter dem Vorhang, der bis zur linken Saalwand gespannt war, wohinter sich die Garderoben der Schauspieler verbargen. Gustav hörte sie durcheinanderreden und vernahm einen triumphierenden Ausruf des Mädchens, das ihm viel zu geschwind entschwunden war. Ein paar Mal noch hörte er die warme, nicht sehr helle Stimme, bis seine Aufmerksamkeit von erneutem Hühnergackern und dem darauffolgenden Erscheinen zweier Personen in Anspruch genommen wurde. In der grell geschminkten Alten erkannte er die Frau des Chefs der Truppe, Libussa Dünnleder, komische Alte und Darstellerin von Mütterrollen in einer Person, und neben ihr einen Mann, der keinerlei Requisiten benötigte, um etwas vorzustellen: nur mittelgroß, in mittleren Jahren mit markanten Gesichtszügen, daraus zwei braune Augen freimütig blickten, das Haar leicht graumeliert über einer hohen Stirn und kräftigen Nase, darunter ein weicher Mund und eine energische Kinnpartie, kurz, ein Mann, der weiß, was er will, der Paniken meistert und Ängste hinweglächelt, ironisch zwar manchmal, doch stets Geborgenheit versprechend und auch wahrlich gebietend. Trotzdem er den rechten Fuß kaum merklich nachzog, schien er Gustav auf jedermann zu wirken, wahrscheinlich auf Frauen besonders. Das ungleiche Paar blieb stehen, und Gustav hörte die Frau mit dürrer monotoner Stimme ein Klagelied anstimmen.
„Nein, nein, mein lieber Erdmann, die Schuld liegt nicht bei uns, alle zwei Stunden haben wir nachgefragt, zwei Tage lang; gestern noch hat der Meister der Richlind hoch und heilig versprochen, dass alles bis heute Vormittag Schlag zehn erledigt sein würde. Da hat er plötzlich seine Grippe bekommen, und der Lehrjunge hat bloß die Leitungen zurechtschneiden können. Soll ich vielleicht mit meiner Schwester und Richlind Kabel löten über Nacht, ja?“ Sie zog die Stirne kraus und seufzte: „Ach, es ist schon ein Kreuz mit allem!“ und ließ sich auf den Regiestuhl sinken.
Gustav hatte sogleich aufgehorcht, als von dem Malheur mit
dem Strom die Rede war. Ein Omen, dachte er, wenn das kein Zeichen des Himmels ist! und strahlte, weil ihm sein in Elektronik beschlagener Freund Willi Widulle mit seinem gut sortierten Handwerkskasten Made in West-Germany einfiel.
Gleich, wenn ich nach Hause komm, schnapp ich ihn mir mit seiner Werkzeugkiste und lass ihn die elektrischen Leitungen reparieren und was sonst noch anfallen mag.
Zu weiteren Überlegungen blieb ihm keine Zeit, da der Lahmende ihn entdeckt hatte und auch Frau Dünnleder aufmerksam machte. Verlegen trat der Junge vor, ihnen seine Anwesenheit zu erklären. Er grüßte mit einem straffen Diener, die Hacken zusammenschlagend, worüber er sich mächtig ärgerte; die Reflexbewegung verdankte er Oberlehrer Eichhorst, der ihnen die parasoldatische Haltung eingetrichtert hatte. Und schon glaubte er, in der Miene des Mannes, den die Alte Erdmann genannt hatte, ein ironisches Lächeln wahrzunehmen.
Frau Dünnleder schien in dem Besucher offenbar einen Störenfried zu vermuten, denn sie erhob sich und fragte mit unfreundlichem Grienen, das zwei Reihen tadelloser falscher Zähne entblößte: „Was wollen Sie, Kerl?“, worauf Gustav verlegen schwieg. „Boulevardtheater suchen Sie hier vergebens“, fuhr die Alte böse fort, „und Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui wird im Palazzo Prozzi gegeben.“
„Ich weiß schon, dass hier Filmaufnahmen gemacht werden“, druckste der Junge herum. „Im vorletzten Jahr wurde doch Dunkel am Ende der Treppe abgedreht und im letzten Das liederliche Kleeblatt . Das fand ich Super! Auch Sieben gegen Theben ...“ Er stockte, als die Alte wehmütig den Kopf schüttelte.
„Nein, junger Mann, hier wird kein Heldenepos mehr verfilmt. Die letzten Charaktere haben rübergemacht, da haben wir es ganz aufgegeben. Hat sowieso zu viel Aufwand bereitet. Aber dafür“, damit hellten sich ihre Züge auf, „kurbeln wir jetzt, seitdem der Herr Jansen bei uns ist und das letzte Filmmaterial noch nicht verbraucht ist“, – sie deutete mit krummem Finger auf ihren Begleiter – „kleine klassische Stücke herunter, die Sie wohl kaum interessieren werden, ja?“
„O doch, sehr sogar!“ stieß Gustav enthusiastisch hervor, „und ich hätte eine große Bitte, weshalb ich eigentlich...“ Er stockte,
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