Letzter Gruss - Thriller
zu.
»Diese Art von Morden sind am allerschwersten aufzuklären«, fuhr der Amerikaner fort. »Die Opfer sind rein zufällig ausgewählt, es gibt keine Verbindung zwischen ihnen und den Tätern. Kein offensichtliches Motiv, keine gemeinsame Geschichte, die
länger ist als ein paar Stunden. Außerdem sind die Mörder als Touristen unterwegs. Das heißt, niemand vermisst sie, keiner kümmert sich darum, wann sie kommen und gehen, keinem fällt auf, dass sie sich merkwürdig verhalten …«
Er wirkte traurig und angespannt und außerdem nicht ganz nüchtern, trotzdem klang er irgendwie vollkommen echt. Er verstellte sich nicht, hatte keinen Schutzschild. Vielleicht war es der Unterschied zu Hugo Bergmans anmaßender Selbstbeweihräucherung, der Dessie darauf aufmerksam werden ließ. Nun, wo sie erkennen konnte, wie er hinter all dem Dreck wirklich aussah, wirkte er zudem ganz ansehnlich.
Konzentration, dachte sie und verschränkte die Arme.
»Was hat das alles mit mir zu tun?«, fragte sie.
Jacob hielt eine kleine Sporttasche hoch, die ihr noch nicht aufgefallen war.
»Das Einzige, was wir haben, ist ein Muster«, sagte er. »Hier habe ich Kopien von den Fotos und Postkarten fast aller Morde. Die Mörder kommunizieren über diese Bilder, aber ich verstehe nicht, was sie sagen wollen. Können Sie mir helfen?«
»Aber ich habe keine Ahnung von Mord«, erwiderte sie.
Er lachte auf, es war ein sehr betrübtes Lachen.
»An wen sollte ich mich sonst wenden?«
Natürlich. Hier stand er, bei ihr, weil er keine andere Alternative hatte.
»Hören Sie«, sagte sie, »ich bin müde und muss in ein paar Stunden schon wieder aufstehen …«
Die Treppenhausbeleuchtung erlosch. Dessie machte sich nicht die Mühe, sie wieder einzuschalten.
»Sie haben heute lange gearbeitet«, sagte Jacob Kanon in die Dunkelheit. »Ist etwas passiert?«
Zu ihrer Verwirrung bemerkte sie, dass ihr Mund trocken wurde.
»Ich hatte eine Verabredung«, erwiderte sie.
Vor den bleiverglasten Fenstern unten im Treppenhaus zeichnete sich seine Silhouette ab.
»Mit Hugo Bergman«, fuhr sie fort. »Einem bekannten Krimiautor, schon von ihm gehört?«
Jacob drückte auf den Lichtschalter, und es wurde wieder hell.
»Die Zeit läuft uns davon«, sagte er. »Die Mörder bleiben immer nur wenige Tage in derselben Stadt, nachdem sie gemordet haben. Noch sind sie wahrscheinlich hier, aber bald werden sie weiterziehen …«
Er kam einen Schritt näher.
»Kimmy stirbt«, sagte er. »Kimmy stirbt wieder und wieder, und wir müssen dem ein Ende machen.«
Dessie wich zurück.
»Morgen«, sagte sie. »Kommen Sie morgen zur Zeitung. Mit ein bisschen Glück kriegen Sie auch eine Tasse Automatenkaffee.«
Er strich sich mit der freien Hand über die Augen, schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anders und verschwand stattdessen die Marmortreppe hinunter.
21
Dessie ging hinein und machte die Tür hinter sich zu. Schloss beide Schlösser ab und ballte die Fäuste.
Sie zog ihre Kleider aus, überlegte, ob sie duschen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Ohne Licht zu machen kroch sie unter die Decke ihres großen Doppelbettes. Es war dunkel im Zimmer, aber nicht stockfinster. Die Sonne war untergegangen, doch schon in wenigen Stunden würde sie wieder am Himmel stehen.
Still lag sie da und sah sich in ihrem Schlafzimmer um. Hier befand sich alles, was sie geerbt hatte. Die Spitzengardinen aus der Stube zu Hause, Großvaters Büfett und die selbst getischlerten Bauernstühle. Gegenstände, die seit Generationen im Familienbesitz waren, aber nach ihrem Tod vermutlich auf irgendeiner billigen Auktion verscherbelt werden würden …
Rastlos warf Dessie die Decke zur Seite, zog sich ihren Morgenmantel über und ging in die Küche. Sie trank ein Glas Wasser und ging dann in die Mädchenkammer, den kleinen Raum hinter der Küche, den sie sich als Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Sie schaltete den Computer ein, zögerte einen Augenblick, dann öffnete sie die Datei mit ihrer halbfertigen Doktorarbeit. Es war fraglich, ob sie jemals fertig werden würde.
Sie seufzte. Eigentlich war sie brennend an ihrer Forschungsarbeit interessiert, sie wusste nicht, warum sie die Dissertation
nicht abschloss. Mehrere Jahre akademischer Arbeit hatte sie in das Projekt gesteckt, sie hatte Kleinkriminelle und ihre Art zu denken studiert, ihre Vorgehensweisen und ihre Beweggründe.
Warum wurde man zum Dieb? Warum wählte man eine solche
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