Letzter Gruss - Thriller
Außenseiterposition?
Tatsache war, dass sie schon ihr ganzes Leben über diese Frage nachdachte. Sie war damit aufgewachsen, auf einem Hof im norrländischen Wald. Weite Teile ihrer Verwandtschaft hatten in ihrem miserablen Leben keinen einzigen ehrlichen Handschlag getan.
Sie scrollte durch ihren Text, las planlos darin herum.
Vielleicht sollte sie sich diese Sache einfach noch einmal vornehmen, fertigschreiben und ihre Prüfung machen.
Das war doch wohl nicht so schwer!
Warum konnte sie nichts ordentlich machen?
Egal ob in der Liebe oder im Beruf, sie brachte nur halbe Sachen zustande.
Sie schaltete den Computer wieder aus und ging zurück in die Küche.
Den perfekten Partner gab es nicht, so viel war klar, und ihre Kompetenz in dieser Angelegenheit beruhte weiß Gott auf ausgedehnter Recherche. Der Deckel zum Topf war ein Mythos. Es ging darum, Kompromisse einzugehen, auszugleichen, auszuhalten. Gabriella war eine klasse Frau, schön und sexy und sehr in sie verliebt. An Christer war auch nichts verkehrt gewesen. Wenn Christer nicht die Scheidung verlangt hätte, wäre sie vermutlich noch immer mit ihm verheiratet. Aber wie viel Spaß hätte das gemacht?
Sie trank ein weiteres Glas Wasser und sah auf die Wanduhr. 01.43 Uhr.
Warum hatte sie dem Amerikaner verraten, dass sie verabredet gewesen war? Warum hatte sie Bergmans Namen erwähnt?
Wollte sie, dass Kanon wusste, dass sie auch mit Männern ausging? Warum sollte sie das wollen?
Sie stellte das Glas auf die Anrichte und spürte ein leises Hungergefühl.
Vielleicht hatte sie ja noch altes Knäckebrot im Schrank. Ansonsten müsste sie wohl oder übel versuchen, die toten Karotten zum Leben zu erwecken.
22
Der Dichter war zurück nach Finnland gefahren und hatte Jacob die Zelle allein überlassen. Es gab weder einen Stuhl noch einen Schreibtisch in dem engen Raum, also ließ er sich auf dem vereinsamten Bett des Finnen nieder. Seine Dienstwaffe und das eingerahmte Foto von Kimmy hatte er in der tiefen Fensternische platziert.
Er beugte sich vor und strich mit dem Finger über die lachenden Wangen seiner Tochter. Dieses Bild hatte er nach ihrem Tod auch an die Presse gegeben. Es war im selben Frühling entstanden, als sie auf der Juilliard angenommen worden war.
Jacob stand auf, ging zu seinem Seesack und machte sich eine Flasche Wein auf. Mit der Flasche in der Hand starrte er hinaus in die helle Sommernacht. Unter seinem Fenster befand sich eine Badestelle. Ein paar Jugendliche mit Studentenmützen und in voller Montur bespritzten sich schreiend und grölend mit Wasser.
Er ließ den Blick über die dunkle Wasseroberfläche gleiten.
Kimmy hatte nicht gern gebadet. Die anderen Kinder aus ihrem Viertel fuhren immer gern nach Brighton Beach hinunter, aber Kimmy hatte niemals richtig schwimmen gelernt. Sie mochte die großen, vor Insekten wimmelnden Wälder auf Staten Island lieber. Sie war ein echter Tomboy, ein Wildfang. Lief in Latzhosen herum und sammelte Spinnen und Kakerlaken.
Nur eines liebte sie noch mehr als ihren Kriechtierzoo, und das
war das Klavier ihrer Tante Martha. Jeden Nachmittag ging sie nach der Schule zur Schwester ihrer Mutter, worüber Jacob überglücklich war, denn dann stellte sie keinen Unfug an. Aber an jenem Nachmittag vor ein paar Jahren, als sie ihm eröffnete, dass sie sich an der Juilliard beworben hatte, der besten Akademie der Welt für Musik, Tanz und Theater, war ihm der Schreck in die Glieder gefahren. Er hatte noch nie davon gehört, dass ein Kind aus der Gegend von Brooklyn Bay Ridge einer Aufnahme auch nur nahe gekommen wäre. Er hatte sich informiert: Nur fünf Prozent aller Bewerber wurden angenommen.
Aber Kimmy war eine der Auserwählten. Für die Aufnahmeprüfung suchte sie sich den technisch anspruchsvollen Franz Liszt aus und spielte sein eindringliches Klavierkonzert »Totentanz Nr. 1«.
Als der Bescheid kam, hatte er vor Stolz geweint, und zu jener Zeit weinte er sehr selten.
Schon am ersten Tag am Konservatorium lernte Kimmy Steve kennen, er studierte Komposition. Sie verlobten sich und wollten heiraten, sobald beide ihr Examen gemacht hatten.
Steven war ein richtig guter Junge, aber Jacob fand, dass die Kinder ein bisschen von der Welt sehen sollten, bevor sie sich häuslich niederließen. Aus diesem Grund hatte er ihnen zu Weihnachten die Reise nach Rom geschenkt.
Am Tag vor ihrer Heimreise nach New York waren sie ermordet worden.
Jacob stand in der Ankunftshalle von JFK, als er von ihrem Tod
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