Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
entweichen. „Ich hab gar nicht gewusst, dass Sie rauchen“, sagte Gasperlmaier in seine Hilflosigkeit hinein und schalt sich gleichzeitig einen Esel, dass ihm nichts Vernünftigeres eingefallen war. „Kommen Sie, Gasperlmaier.“ Die Frau Doktor sprang auf und machte sich auf den Weg zum See hinunter, blieb dann aber mitten auf der Wiese stehen. Bevor sie zu sprechen begann – das war der Moment, in dem ihm seine Gedanken darüber durch den Kopf gingen, wie schön so ein Morgen am See eigentlich hätte sein können.
„Ich denk jetzt an die Judith Naglreiter“, begann die Frau Doktor. „Und daran, dass sie innerhalb so kurzer Zeit ihre Eltern und ihren Bruder verloren hat. Und dass, wie es ausschaut, alle drei Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Wer will die Naglreiters ausrotten? Gasperlmaier?“ Gasperlmaier konnte nur mit den Schultern zucken und ratlos auf die spiegelglatte Fläche des Sees hinausstarren, in der sich malerisch die Gipfel des Dachsteins spiegelten. „Unvorstellbar“, sagte die Frau Doktor, zog noch einmal an ihrer Zigarette und warf sie dann zu Boden, wo der Rest vor sich hin glomm und ein wenig Rauch nach Osten zu über die Wiese zog. Gasperlmaier starrte gedankenverloren auf den Zigarettenrest und dachte nur, dass es nicht nett von der Frau Doktor war, ihren unverrottbaren Stummel auf der Seewiese zurückzulassen.
„Und vor allem denke ich daran, dass ich es jetzt mit der dritten Leiche innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu tun bekommen habe, dass ich keine klaren Spuren, keine Hinweise, keine irgendwie sinnvollen Zeugenaussagen habe, dass ich gar nichts habe, und dass ich mich überfordert fühle.“ Gasperlmaier hätte sich nicht gedacht, dass die Frau Doktor Kohlross ihm gegenüber so etwas zugeben würde. Er war sich eigentlich sicher gewesen, dass sie genau wusste, was zu tun war, es anpackte und erledigte. Gasperlmaier hielt den Mund, denn er wusste aus Erfahrung, dass es keine gute Idee war, Frauen, die gerade ihre Selbstzweifel an die Oberfläche hatten kommen lassen, mit sachlich logischen und infolgedessen klugen Ratschlägen zu kommen. Vor allem, dachte Gasperlmaier bei sich, bin ich ja praktisch nur der abkommandierte Fremdenführer, das Denken, dafür war die Frau Doktor schon selber zuständig. Obwohl es ihm durchaus gefallen hätte, jetzt in dieser Situation ein wenig weiter als sie denken zu können und ihr aus dem Schlamassel, den sie offenbar vor sich sah, heraushelfen zu können. Gasperlmaier erinnerte sich an den gestrigen Abend, als er das Gefühl gehabt hatte, ein einstürzendes Haus sei quasi auf ihn heruntergedonnert, und dass er hilflos in den Trümmern gefangen sei, ohne sich rühren zu können. So ähnlich mochte es der Frau Doktor jetzt gehen. „So ähnlich ist es mir gestern Abend auch gegangen“, sagte Gasperlmaier, ohne dass er es geplant hatte. Er war selbst gänzlich überrascht, dass der Satz seinem Mund entkommen war. Die Frau Doktor wandte sich ihm zu und lächelte ein leises, fast verschwindend kleines Lächeln. „Danke“, sagte sie. Und Gasperlmaier hatte plötzlich das Gefühl, dass es ihm gelungen war, eine Frau einmal ein wenig zu verstehen.
„Wer, Gasperlmaier, glauben Sie, könnte dem Stefan Naglreiter hier hinten einen Stein über den Schädel gezogen und ihn dann liegen gelassen haben?“ Die Frau Doktor sprach zwar Gasperlmaier an, ihre Blicke blieben aber irgendwo im Spiegelbild des Dachsteins gefangen. Gasperlmaier versuchte seine Gedanken zu ordnen, im Bemühen, eine einigermaßen sinnvolle Antwort zustande zu bringen, als ein Uniformierter, den Gasperlmaier nicht kannte, von hinten an sie herantrat. „Entschuldigung, Frau Doktor.“ Die Angesprochene und Gasperlmaier drehten sich erschreckt um, fast wie ein Pärchen, dachte Gasperlmaier, das bei einem intimen Stelldichein von einem Fremden überrascht wurde. Wie kam er bloß auf solche Gedanken? Von Intimität konnte doch beim Gespräch über serienweise anfallende Leichen wirklich nicht die Rede sein. „Da ist noch der Jogger, der die Leiche gefunden hat. Wollen Sie nicht mit ihm reden? Er wartet schon so lang.“ Die Frau Doktor Kohlross nickte und der Uniformierte führte sie auf die Veranda des Jagdhauses, wo ein dürrer, graubärtiger Mann saß, eine Decke um die Schultern geschlagen.
„Kohlross, Bezirkspolizeikommando.“ Die Frau Doktor streckte dem Läufer die Hand hin, der die seine erst um-ständlich aus der Decke befreien musste. „Eine Stunde haben Sie
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