Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
mich warten lassen!“, fuhr er die Frau Doktor griesgrämig an. Gasperlmaier kannte solche Typen. Morgens Training, abends Training, nichts als den nächsten Marathon hatten sie im Kopf, und wenn irgendein unvorhergesehener Vorfall einen Trainingslauf unterbrach, dachten sie zu allererst daran, die Daten des bisher gelaufenen Programms zu sichern und zu überlegen, wie die verlorene Trainingszeit wieder eingebracht werden konnte. Gasperlmaier meinte den Mann schon gesehen zu haben. Wunder wäre es keines gewesen, Menschen seines Schlages waren ja fast zu jeder Zeit und überall auf Güterwegen, Forststraßen und Radwegen unterwegs. Jedenfalls sprach er leicht lokal gefärbten Dialekt, wie Gasperlmaier bereits anhand des ersten Satzes feststellen konnte.
„Sie waren joggen, als Sie den Toten gefunden haben?“ Da war die Frau Doktor leider in ein Fettnäpfchen getreten. „Joggen!“, schnaubte der Eingehüllte. „Liebe Frau, ich jogge nicht. Ich laufe. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Ich laufe viertausend Kilometer im Jahr. Marathon-Bestzeit unter drei Stunden. Joggen!“, höhnte er noch einmal, schüttelte den Kopf, von dem unter einem hellblauen Stirnband verschwitzte Haare in alle Richtungen abstanden wie die Dornen der Krone des Jesus aus der Kirche, an den sich Gasperlmaier so gut erinnerte, weil er als Kind beim Kreuzwegbeten so oft daran vorbeigegangen war. Streng getrennt nach Geschlechtern waren die Buben und Mädchen während der Karwoche durch den Kreuzweg getrieben worden, ohne dass sich Gasperlmaier im Detail daran erinnern konnte, ob man ihn dazu gezwungen hatte oder ob er in Anfällen religiöser Raserei freiwillig an dieser Prozedur teilgenommen hatte.
„Sie haben also die Leiche gefunden?“, versuchte die Frau Doktor einen neuen Anfang. Der Mann nickte. Seine Antwort ließ wiederum auf sich warten, weil der Wirt des Jagdhauses ihm einen Tee hinstellte. „Geht aufs Haus!“
„Servus Paul“, sagte Gasperlmaier zum Wirt, den er seit langem kannte. Der Paul betrieb nicht nur das Jagdhaus auf der Seewiese, er hatte auch eine Hütte im Skigebiet auf dem Sandling und konnte daher Sommer- wie Wintersaison nutzen. Was er auch nie zu betonen vergaß. „Warum bist du denn heute schon so bald heraußen?“, wollte Gasperlmaier wissen. „Ja, Gasperlmaier!“ Der Paul ließ krachend seine Hand auf dessen Schulter niedersausen. „Du bist kein Geschäftsmann, gell? Schau dich um!“ Und mit weit ausladender Geste wies der Paul auf die vielen Leute, die sich im Blickfeld der Veranda geschäftig machten, um herauszufinden, wie und durch wessen Hand der Stefan Naglreiter gestorben war. „Mir ist es egal, warum die Leute kommen. Getrunken und gegessen wird immer!“ Der Paul lachte, als sei der Mord für ihn ein besonderer Glücksfall. „Darf’s für Sie auch was sein, Frau Doktor?“ Charmant kniff der Paul ein Auge zu, als er sich der Frau Doktor Kohlross zuwandte. „Wenn S’ für mich auch einen Tee haben?“ Ein wenig schien sie irritiert wegen der Unterbrechung durch das Auftauchen des Paul, das das Gespräch mit dem Marathonläufer verzögerte.
Im dritten Anlauf fragte die Frau Doktor nun den Tee schlürfenden Sportler: „Beschreiben Sie bitte genau, was Sie gesehen haben.“ Der Angesprochene war allerdings schlecht gelaunt und dementsprechend unwirsch, wie Leute, die eine Stunde warten müssen und dann der Polizei Auskunft zu erteilen haben, es häufig sind, dachte Gasperlmaier bei sich. „Deswegen haben Sie mich eine Stunde warten lassen? Er ist genau so dagelegen, wie er jetzt noch daliegt. Und ich hab ihm den Puls gefühlt und überprüft, ob er atmet. Doch da war keine Reaktion.“
„Kennen Sie den Toten?“ Offenbar war dem Läufer jetzt warm geworden, denn er warf die Decke von sich und reckte beide dürren Arme, die in einem teils blitzblauen, teils neongelben Trikot steckten, gegen den Himmel. „Natürlich! Deswegen hab ich mich ja so erschrocken! Ich bin der Nachbar!“ Gasperlmaier war überrascht. Er hatte gedacht, er kannte alle Altausseer, und demzufolge angenommen, der Mann sei wohl aus Bad Aussee. Dass er ein Altausseer war, damit hatte er keinesfalls gerechnet. Wahrscheinlich war er doch ein Zugezogener.
„Was haben Sie denn danach gemacht?“ Die Frau Doktor Kohlross hatte ihr Notizbuch gezückt und den im Buchrücken verborgenen Stift herausgezogen. Sie schlug die Beine übereinander und legte das Buch auf ihren Oberschenkel. „Ich bin ein Stückerl
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