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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nicht in die Angelegenheiten meiner Nachbarn.»
    «Ram Khare hat nichts von einem jungen Mann gesagt, der nachts ins Haus gekommen wäre.»
    «Was bedeutet das schon, wenn Ram Khare nichts gesehen hat?», warf Mrs Puri ein. «An dem könnte eine ganze Armee vorbeimarschieren, ohne dass er es merkt.»
    Schmatzend hatte der streunende Hund sein
channa
geschlabbert, rannte nun auf das Parlament zu, trabte über das Abwasser, glitt unter den Stühlen hindurch und sprang das Treppenhaus hoch, als wollte er ihnen die Lösung ihres Problems aufzeigen.
    Der Verwalter folgte dem Hund.
    Heftig schnaufend, eine Hand auf dem Geländer und eine auf ihrer Hüfte, erklomm Mrs Puri die Treppen. Durch die sternförmigen Löcher in der Wand konnte sie Mr Pinto sehen, der neben dem schwarzen Kreuz stand und ein Auge auf Ramu hatte, bis sie wieder herunterkam.
    Auf dem zweiten Treppenabsatz roch sie den Hund. Bernsteinfarbene Augen glänzten im dämmrigen Treppenhaus; blasse, stark verkotete Läufe zitterten. Mrs Puri stieg über die kränklichen Läufe und ging in den dritten Stock.
    Der Verwalter stand, einen Finger auf den Lippen, vor Masterjis Tür. Aus der geöffneten Tür konnten sie Stimmen hören.
    «… und meine Hand stellt was dar?»
    «Ja, Masterji.»
    «Beantwortet die Frage, Jungs: Meine Hand stellt was dar?»
    «Die Erde.»
    «Richtig. Ausnahmsweise.»
    Die zweiwöchentliche Nachhilfestunde in Naturwissenschaften war im Gange. Mrs Puri gesellte sich zum Verwalter, gemeinsam standen sie vor der einzigen Tür der Vishram Society, die keine religiösen Symbole trugen.
    «Das ist die Erde in der Unendlichkeit des Alls. Die Heimstatt des Menschen. Könnt ihr mir folgen?»
    Ehrfurcht vor Wissenschaft und Lehre ließ den Verwalter mit gefalteten Händen dastehen. Mrs Puri schob sich an ihm vorbei zur Tür. Sie kniff ein Auge zu und linste hinein.
    Das Wohnzimmer war dunkel, die Vorhänge zugezogen, eine Tischlampe war die einzige Lichtquelle.
    Der Umriss einer riesigen Faust erschien an der Wand, wie die Geste eines Diktators.
    Ein Mann stand neben der Tischlampe, zeichnete Schatten an die Wand. Vier Kinder saßen auf einem Sofa und betrachteten die Schatten, die er zauberte, ein weiteres saß auf dem Boden.
    «Und meine zweite Faust, die um die Erde kreist, stellt was dar?»
    «Die Sonne, Masterji.» Einer der Jungen.
    «Nein.»
    «Nein?»
    «Nein, nein und nochmals nein. Das ist die Sonne. Schaut –», ein Klicken und das Zimmer wurde vollständig dunkel. «Die Erde ohne die Sonne.» Klicken. «Die Erde mit der Sonne. Versteht ihr? Lampe = Sonne.»
    «Ja, Masterji.»
    «Jetzt alle zusammen.»
    «Ja, Masterji.» Drei Stimmen.
    «Alle!»
    «Ja, Masterji.» Vier Stimmen.
    «Also stellt meine zweite, genauer gesagt, meine sich bewegende Faust was dar? Großes, weißes Objekt, das ihr nachts seht, wenn ihr nach oben schaut?»
    «Den Mond.»
    «Richtig. Den MOND. Trabant der Erde. Wie viele Trabanten hat die Erde?»
    «Können wir jetzt gehen, Masterji?»
    «Erst wenn wir die Sonnenfinsternis durchgenommen haben. Und was zappelst du so herum, Mohammad?»
    «Anand zwickt mich, Masterji.»
    «Hör auf, ihn zu zwicken, Anand. Das ist Physik, keine Spielstunde. Also, wie viele Trabanten hat –»
    Der Junge auf dem Boden sagte: «Eine Frage, Masterji.»
    «Ja?»
    «Masterji, was ist passiert, als die Dinosaurier ausstarben? Zeigen Sie uns noch mal, wie der Meteor auf der Erde einschlug.»
    «Und erzählen Sie uns noch mal von der Erderwärmung, Masterji.»
    «Ihr versucht meinen Fragen auszuweichen, indem ihr selbst welche stellt. Glaubt ihr, ich habe vierunddreißig Jahre lang an der Schule unterrichtet und durchschaue solche Tricks nicht?»
    «Das ist kein Trick, Masterji, das ist –»
    «Schluss für heute. Die Stunde ist zu Ende», sagte Masterji und klatschte in die Hände.
    «Wir können jetzt rein», sagte der Verwalter. Mrs Puri stieß die Tür auf und schaltete das Licht im Zimmer an.
    Die vier Jungen, die auf dem Sofa gesessen hatten – Sunil Rego (1 B), Anand Ganguly (5 B), Raghav Ajwani (2 C) und Mohammad Kudwa (4 C) – standen auf. Tinku Kothari (4 A), der fette Sohn des Verwalters, kämpfte sich auf die Füße.
    «Genug, Jungs, geht heim!» Mrs Puri klatschte in die Hände. «Masterji muss demnächst zu Abend essen. Die Stunde ist zu Ende. Los, los, los.»
    Es war keine «Schulstunde», auch wenn der Unterricht würdevoll durchgeführt wurde, sondern eine außerschulische Auffrischung in Naturwissenschaften – und

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