Letzter Mann im Turm - Roman
soll ich die Zeit hernehmen? Ich bringe es nächste Woche zurück, versprochen. Und ich werfe den Hund morgen raus.»
«Gut.» Er hatte wieder mit dem Zauberwürfel zu spielen begonnen. «Bringen Sie einfach das Buch zurück. Welches ist es denn?»
Mrs Puri drehte das Cover so, dass er den Titel lesen konnte:
Mord im Orientexpress.
Yogesh Murthy, bekannt als Masterji, war wegen seines angesehenen Berufs und seiner würdevollen Haltung einer der ersten Hindus, die in Vishram wohnen durften. Er war hager, schnurrbärtig und von mittlerer Größe, körperlich ein typischer Vertreter der älteren Generation. Sprachbegabt (er beherrschte sechs Sprachen), großzügig mit seinen Büchern, ein leidenschaftlicher Pädagoge. Eine Zierde seines Wohnhauses.
Kaum waren die Wimpel von seiner Abschiedsfeier im vergangenen Mai (bei der es Samosas und
masala chai
gab und drei Schülergenerationen anwesend waren) in der Aula von St. Catherine abgehängt worden, wurde bei seiner Frau Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt; eine Nebenwirkung der Medikamente, die sie jahrelang gegen ihre rheumatoide Arthritis hatte nehmen müssen. Sie starb im Oktober. Ihr Tod war der zweite Verlust, der ihn traf; vor über einem Jahrzehnt war seine Tochter, Sandhya, aus einem Zug gefallen. Auf der Habenseite stand Gaurav, sein einziges überlebendes Kind, das jetzt von seinem Arbeitgeber (der die Kaution von sechs Monatsmieten gezahlt hatte und, so hieß es, sogar für die Hälfte der monatlichen Miete aufkam) in einerguten Wohnung in Süd-Mumbai, Marine Lines, «untergebracht» worden war; also war Masterjis Geschichte nun eigentlich erzählt. Was würde er mit seiner verbleibenden Zeit anfangen, diesem Zigarettenstummel an Jahren, der einem Mann über sechzig noch blieb? Nach dem Verlust seiner Frau hatte er sich weiterhin gepflegt und seine Wohnung sauber gehalten, hatte weiter Kinder unterrichtet, Krimis verliehen, seine Abendspaziergänge in gemäßigtem Tempo um das Grundstück gemacht und Gemüse in ausreichender Menge auf dem Markt eingekauft. Er zügelte seinen Appetit und seinen Kummer, hatte sein Los mit Würde angenommen, und dies steigerte sein Ansehen bei den Nachbarn, die alle auf die eine oder andere Weise, meist betraf es Kinder oder Ehepartner, vom Schicksal geschlagen waren. Sie wussten, dass sie selbst zum Jammern neigten, er hingegen, obwohl er ein größeres Päckchen zu tragen hatte, alles mit Fassung trug.
12. MAI
«Oioioi, mein Ramu. Jetzt raus aus dem Bett. Oder Mama wird dir kräftig den Hintern versohlen. Raus oder das nette Entchen wird sagen, dass Ramu ein fauler, fauler Junge ist.»
Mrs Puri brachte Ramu dazu, in eine Badewanne zu steigen, halb gefüllt mit warmem
(niemals
heißem) Wasser, und ließ ihn ein paar Minuten mit seinem Entchen und Spider-Man spielen. Eine halbe Stunde, bevor Ramu erwachte, ging Mr Puri, ein Buchhalter, mit einer Brotdose aus Blech, die seine Frau ihm gerichtet hatte, zur Arbeit. Es war eine lange Fahrt für ihn, Autorikscha, Zug, Umsteigen in Dadar und dann ein Gemeinschaftstaxi von Victoria Terminus nach Nariman Point, von wo aus er Ramu pünktlich zu Mittag anrufen würde, um sich nach dem heutigen Gesundheitszustand des netten Entchens zu erkundigen.
«Ramm-pamm-pamm», sagte der nackte, tropfende Junge, während sie seine bleichen, flaumigen Beine schrubbte. (Laut
Reader’s Digest
gut für die Durchblutung.) Es hatte eine Zeit gegeben, und sie war noch nicht allzu lange her, als er sich selbst gewaschen und mit einem Handtuch abgetrocknet hatte, und sie hatte sich Träumen hingegeben, dass er sich eines Tages sogar selbst würde ankleiden können.
«Wir sollten heute ein neues Wort lernen, Ramu. Hier, was ist mit diesem Wort aus Masterjis Roman? Ex-press. Sprich mir nach.»
«Ramm-pamm-pamm.»
Ramu trat auf die alten Zeitungen, die auf dem Boden lagen, und steuerte, nun vollständig angezogen, ins Esszimmer. Der 77,5 Quadratmeter große Lebensraum der Puris war ein Mahlstromaus Zeitungspapier. Sofas und Tische waren unter
India-Today-
und
Femina
-Zeitschriften, Büropapier und Kreditanträgen, Stromrechnungen, Kontoauszügen und Ramus Malbüchern verschwunden. Die Kühlschrankfront im Esszimmer bedeckte eine Collage aus Stickern mit politischen Slogans
(Gegen die Erderwärmung – Diese Woche eine Stunde lang Licht aus)
und zerknitterten Zetteln mit längst überholten Mitteilungen. In jedem Zimmer standen Schränke; ihre Türen öffneten sich plötzlich, und mit schrecklicher
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