Letzter Mann im Turm - Roman
sollte auf ein normales Schulkind wirken wie eine Steroidinjektion auf einen gesunden Sportler.
Anand Ganguly ergriff seinen Kricketschläger, der am alten Kühlschrank lehnte; Mohammad Kudwa nahm seine blaue Kricketmütze, auf der der Star of India prangte, von der Vitrine, in der sich Masterjis Silberpokale, Orden und Urkunden für hervorragende Leistungen als Lehrer drängten.
«Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen», sagte Masterji. «Ich habe in letzter Zeit kaum Besucher. Das heißt, kaum erwachsene Besucher.»
Mrs Puri überprüfte, ob Licht in 3 B brannte – natürlich nicht, junge Menschen mit diesem Lebensstil sind selten vor 22 Uhr zu Hause –, und schloss die Tür. Mit leiser Stimme erklärte sie das Problem mit Masterjis unmittelbarer Nachbarin und was die Morgenkatze in ihrem Abfall gefunden hatte.
«Da gibt es einen jungen Mann, der sie besucht und mit ihr ausgeht», räumte Masterji ein. Er wandte sich an den Verwalter. «Aber sie arbeitet doch, oder?»
«Journalistin.»
«Diese Leute sind für ihre dubiosen Aktivitäten bekannt», sagte Mrs Puri.
«Mir kommt sie, auch wenn ich sie nicht näher kenne, wie eine anständige junge Frau vor.»
«Anfänglich wurden in diesem Gebäude keine Hindus zugelassen, so war das», sagte Masterji und seine Stimme erhielt Gewicht durch das Echo von «Sonne, Mond, Sonnenfinsternis, Physik», das immer noch in ihr zu schwingen schien. «Dann durften keine Moslems einziehen, so war das. Als man ihnen dann eine Chance gab, erwiesen sich alle als anständige Leute. Jetzt sollten junge Leute, selbst unverheiratete junge Frauen, eine Chance bekommen.Wir wollen kein Wohnhaus voller Rentner und Blinder werden. Wenn diese junge Frau und ihr Freund etwas Unpassendes getan haben, sollten wir mit ihnen reden. Aber …», er schaute Mrs Puri an, «… wir sollten uns nicht an ihrem Müll zu schaffen machen.»
Mrs Puri zuckte zusammen. Von niemand anderem hätte sie sich so etwas gefallen lassen.
Sie schaute sich in der Wohnung um, in der sie seit geraumer Zeit nicht mehr zu Besuch gewesen war, erwartete immer noch, Purnima zu sehen, Masterjis stille, tüchtige Frau und eine ihrer besten Freundinnen in Vishram. Nun da Purnima nicht mehr da war – sie war seit mehr als sechs Monaten tot – fielen Mrs Puri Anzeichen von Armseligkeit, ja Verfall auf. Eine der beiden Wanduhren war kaputt. Ein blasses Viereck auf der Wand über dem leeren Fernsehtisch erinnerte an den uralten Sanyo-Apparat, den Masterji nach ihrem Tod verkauft hatte, weil er ihn als Luxus ablehnte. (Was für ein Fehler, dachte Mrs Puri, ein Witwer ohne Fernseher verliert den Verstand.) Wasserflecken blühten an der Decke; die Leitungsrohre im vierten Stock leckten. Jedes Jahr im September hatte Purnima einen Mann aus den Slums dafür bezahlt, sie wegzuschrubben und zu übertünchen. Dieses Jahr verbreiteten sich die unangetasteten Flecken wie ein geisterhafter Beweis ihrer Abwesenheit.
Nun da Mrs Puris Problem abgetan war, brachte der Verwalter sein gewichtigeres Anliegen vor. Er erzählte Masterji von dem wissbegierigen Fremden, der das Wohnhaus zweimal besucht hatte. Sollten sie bei der Polizei Anzeige erstatten?
Masterji starrte den Verwalter an. «Was kann dieser Mann hier stehlen, Kothari?»
Er ging zum Waschbecken, das in einer Zimmerecke stand – darüber ein Spiegel, ein gerahmtes Bild von Galileo («Begründer der modernen Physik») wiederum über dem Spiegel –, und drehte den Wasserhahn auf; ein dünner Wasserstrahl rann heraus.
«Soll er
das
stehlen? Unsere Wasserrohre?»
Jedes Jahr arbeitete der Bauunternehmer, der den zusätzlichen Tank zu reinigen hatte, schlampig, und die Verschlickung aus dem Tank verstopfte die Leitungsrohre in allen Wohnungen direkt unter dem Wassertank auf dem Dach.
Der Verwalter antwortete mit einem besänftigenden Lächeln. «Wenn ich den Klempner das nächste Mal sehe, schicke ich ihn rüber, Masterji.»
Quietschend öffnete sich die Tür, Sunil Rego war zurückgekommen.
Der Junge hatte seine Schuhe vor der Tür gelassen und kam herein, in der Hand eine lange Papierrolle. Masterji konnte auf ihr die Worte TUBERKULOSE-WOCHE SPENDENAKTION lesen.
Die Mutter des 14-jährigen Sunil war Sozialarbeiterin, eine respekteinflößende Frau mit linksgerichteten Ansichten, die im Wohnhaus den Spitznamen «Schlachtschiff» bekommen hatte. Der Sohn entwickelte sich bereits zum kleinen Kanonenboot.
«Masterji, TB ist eine Krankheit, die wir gemeinsam
Weitere Kostenlose Bücher