Letzter Mann im Turm - Roman
Malabar Hill und betrachtete das dunkler werdende Meer. Er hörte Schläge, die wie Axtschläge klangen. Das Wasser brandete gegen Breach Candy an, gegen die ursprüngliche Mauer, die die Gezeiten von Bombay fernhielt.
Er sah, wie die Hörner des Stiers aus dem dunklen Wasser auftauchten, der weiße Stier des Meeres rannte gegen die Mauer an.
Jetzt konnte er sehen, wie sich die ursprüngliche Lücke in der Meermauer wieder öffnete und wie das Wasser hereinströmte, Wellen erhoben sich über edlen Immobilien, löschten Häuser und Wolkenkratzer aus. Nun griff der wütende weiße Bulle an, der mit den Hörnern zuerst aus den Wellen auftauchte. Die Wellen reichten bis zu den Wohntürmen und schwappten hinein. Wassermuskeln schlugen auf das Brabourne-Stadion und den Cricket Club of India ein, ein Huftritt der Flut brachte die Bombay University zu Fall …
Ein Finger schnippte in der Dunkelheit, und eine Stimme drängte: «Steh auf.»
Er öffnete die Augen; er war zu schwach, um sich zu rühren. Wieder schnippte der Finger: «Auf.»
Ich kann nicht wieder ins Bett. Wenn ich mich hinlege, werde ich wieder meine Nachbarn und meine Stadt verwünschen.
Er öffnete die Tür und ging die Treppe hinunter. Das Mondlicht fiel durch die achteckigen Sterne des Gitters; der Mond kam ihm so hell vor wie damals in jener Nacht vor so vielen Jahren in Shimla.
Von einem Mondstrahl gebannt, lehnte er sich gegen die Wand.
Die Republik, das Oberste Gericht und seine eingetragene Wohnungsgenossenschaft mochten verlogen sein, aber die Flure seines Hauses waren nicht ohne Gesetz; etwas, dem er seit einundsechzig Jahren gehorcht hatte, herrschte hier noch immer über ihn.
Er kehrte in seine Wohnung zurück; er schloss die Tür hinter sich.
Masterji öffnete den grünen
almirah
seiner Frau, kniete sich vor das Brett mit dem Hochzeitssari und dachte an Purnima.
Der Mond, niedrig stehend, weiß und beinahe voll, bewegte sich über Vakola.
Ajwani konnte an so einem Abend nicht zu Hause bleiben. Er war die Schnellstraße entlanggegangen, hatte unter einem Laternenpfahl gesessen, war dann weitergegangen, bevor er eine Autorikscha nach Andheri genommen hatte, wo er zu Abend aß.
Es war nach 23 Uhr. Nach einem Bier in einer Spelunke kehrte er über die Schnellstraße in einer Autorikscha zurück. Die Nachtluft schlug ihm ins Gesicht. Er kam an überfüllten, schachtelartigen Slumhäusern vorbei. Dutzende Leben gaben sich ihm innerhalb von Sekunden zu erkennen; eine Frau, die sich das lange Haar kämmte; ein Junge mit weißem Scheitelkäppchen, der im Schein einer hellen Tischlampe ein Buch las; ein Paar, das sich eine Serie im Fernsehen ansah. Die Autorikscha sauste über eine Betonbrücke. Unter ihm schliefen Obdachlose, badeten, spielten Karten, fütterten Kinder, starrten in die Ferne. Sie waren Gefangene der Notwendigkeit; er floh.
Morgen um diese Zeit werde ich mich von all diesen Menschen unterscheiden,
dachte er, und seine Hände wurden zu dunklen Fäusten.
5. OKTOBER
Als Masterji die Augen öffnete, kniete er immer noch vor dem geöffneten
almirah.
Die Sonne schien ins Zimmer.
Ein neuer Tag war angebrochen: Purnimas Todestag.
Meine Beine werden wehtun,
dachte er und suchte nach etwas, an dem er sich beim Aufrichten festhalten konnte.
Er stieg über die Unterwäsche, die um die halb automatische Waschmaschine herumlag, und ging ins Wohnzimmer.
Es war der erste Todestag seiner Frau, aber Trivedi hatte sich geweigert, das Ritual abzuhalten. Wo konnte er es in letzter Minute noch durchführen lassen?
Als er sich die Zähne putzte, kam es ihm so vor, als lieferte ihm das Gesicht im Spiegel, durch die Weisheit der schäumenden Zahnpasta bereichert, Gegenargumente: Dann sagt Trivedi eben Nein. Warum ein Tempel, warum ein Priester? Physikalische Experimente konnte man auch allein zu Hause durchführen; die Existenz von Sonne und Mond, die Kugelform der Erde, all das konnte auch in einem kleinen Zimmer demonstriert werden.
Wie wahr, bestätigte er, als er sich am Waschbecken das Gesicht und den Mund wusch, wie wahr.
Er fing den schwachen Wasserstrahl aus dem Hahn in der Hand auf. Es schien, als ob Wasser in allen hinduistischen Zeremonien eine Rolle spielte. Auch bei den Christen war es von Bedeutung. Moslems gurgelten und wuschen sich vor ihrem
namaaz.
Er nahm eine Handvoll Wasser und ging ans Fenster. Auch Sonnenlicht hatte eine religiöse Bedeutung. Er öffnete das Fenster und verspritzte Wasser in Richtung der Morgensonne.
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