Letzter Mann im Turm - Roman
Sie heute Abend zu Ihrer Schwester gehen? Zu der, die in Bandra wohnt?»
«Nein … das habe ich nicht gesagt.»
Mrs Puri lächelte.
«Dann
sollten
Sie sie aber besuchen, Mrs Rego. Und Sie sollten auch meinen Ramu mitnehmen.»
«Aber … ich habe den Jungen, die am tamilischen Tempel Kricket spielen, versprochen, mit ihnen zum Strand zu gehen.»
«Es ist ein Gefallen, um den ich Sie als Nachbarin bitte. Habe ich Sie in all den Jahren jemals gebeten, auf Ramu aufzupassen?»
Mrs Rego blickte von Ramu zu dessen Mutter und wartete auf eine Erklärung.
«Ramu muss beim Festumzug David den Goliathtöter spielen. Ich werde danach bis um 21 Uhr helfen müssen, die Bühnendekoration abzuräumen.»
«Aber Ramu kann doch hier bei mir bleiben.»
Mrs Puri legte ihrer Nachbarin die Hand auf die Schulter.
«Ich möchte, dass Sie Ihre Schwester besuchen. Ist doch eine einfache Sache, oder?»
Die Fünf-Sekunden-Regel. Als Kinder hatten Mrs Rego und ihre Schwester in Bandra diese Regel jedes Mal ins Spiel gebracht, wenn ein Hühnerbein oder ein Stück Mango auf den Boden gefallen war. Heb es auf, ehe du bis fünf gezählt hast, und du musst dir über Bakterien keine Gedanken machen. Wenn man etwas innerhalb von fünf Sekunden tat, musste man sich über das, was man tat, keine Gedanken machen.
Mrs Rego sagte «Das mache ich gern für Sie» – eins, zwei, drei, vier –, und schloss die Tür.
«Sei tapfer, Ramu. Ich muss dich beim Kommunisten-Tantchen lassen. Mummy muss den anderen Mummys beim Aufräumen helfen – oder wer soll sonst die Verantwortung übernehmen?»
Ramu verkroch sich in seine Flugzeugdecke und schmollte gemeinsam mit dem netten Entchen.
Mrs Puri saß neben ihrem Sohn und blickte auf ihr Handy, das gerade gepiepst hatte. Ajwani hatte ihr eine SMS geschickt: «Gehe in die Stadt. 18.00 zurück.»
Sie wusste genau, welchen Teil der Stadt er aufsuchte.
Falkland Road.
Ihr Bruder Vikram war in der Marine gewesen, und in der Messe waren sie jede Woche mit Old-Monk-Rum versorgt worden. Er brachte das Blut in Wallung. Männer, die kühne körperliche Taten vollbrachten, hatten Wallung nötig.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie Ajwani auf der Dachterrasse kauern, sich jetzt leichtfüßig hinter Masterji bewegen, bis der Zeitpunkt für den Schubs gekommen war. Wallung, das brauchte ein Mann für solche Aktionen. Wenn er dazu in die Falkland Road gehen musste, sei’s drum.
Ein Arm glitt unter der Flugzeugdecke hervor und schob die Armreifen um Mrs Puris Unterarm zusammen, bis ihr Handgelenk goldgepanzert wie das eines Kriegers war. Sie schüttelte den Arm, und die Armreifen klingelten; die liebliche Musik lockte Ramu, der wie ein Sonnenaufgang strahlte, unter seiner Decke hervor.
Rauf und runter schob er die goldenen Reifen über den Arm seiner Mutter. Ihre Haut wurde warm, und die Härchen auf ihrem Unterarm wurden von der Reibung versengt.
Mrs Puri musste sich beherrschen, um nicht zusammenzuzucken. Sie lächelte und ließ ihren Sohn weiterspielen.
Mumtaz Kudwa rief ihren Mann irgendwann nach Mittag an, um ihm mitzuteilen, dass sie zufällig gehört habe, wie Mrs Puri MrsRego gebeten hatte, am Abend auf Ramu aufzupassen. Und dann habe der Verwalter an die Tür geklopft und gesagt, niemand solle nach 21 Uhr das Gebäude verlassen.
«Was tun sie Masterji diesmal an?», fragte Kudwa seine Frau.
«Ich weiß es nicht», sagte sie, «ich habe gedacht, sie hätten es dir gesagt.»
«Mich lassen sie immer außen vor. Sie haben mir auch nichts gesagt, als sie die Zweitschlüssel haben anfertigen lassen … Was meinst du, was soll ich tun, soll ich zu Sangeeta-ji gehen und sie fragen, was sie vorhaben?»
Sie wollte etwas sagen, beließ es aber bei der alten Formel: «Das ist deine Sache. Du bist hier der Mann im Haus.»
Typisch,
dachte er, als er in seinem Internetcafé saß und Mariam übers Haar streichelte,
typisch.
Ein Mann kann doch von seiner Frau erwarten, dass sie hin und wieder eine Entscheidung für ihn trifft, Ibrahim Kudwa aber nicht.
Er war nach der Heirat genauso allein und auf sich gestellt wie vor der Heirat.
Auf seinem Tisch lag in einer Ecke der schwarze Schutzhelm seiner neuen Bajaj Pulsar. Er wünschte, er hätte auf Mumtaz gehört und bis zum Ablauf der Frist damit gewartet, das Motorrad zu kaufen; wenn sie das Geld nicht bekamen, wovon sollte er dann die monatlichen Raten bezahlen?
Wärst du bloß ein bisschen älter,
dachte er und ließ Mariam auf seinem Knie hüpfen.
Könntest du doch
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