Letzter Mann im Turm - Roman
«das Lied ist ganz einfach. Hier, ich zeig’s euch.» Er klatschte den Takt und begann zu singen.
«Hey Jude, don’t make it
…»
«Was für eine schöne Stimme, Ibby», sagte Mrs Puri.
«Ach, was, nein, nein. Sie taugt jetzt gar nichts mehr, Sangeetaji. Ich übe ja nicht. Aber ihr hättet mich mal damals im College hören sollen …» Kudwa ließ die Hand über seinem Kopf kreisen, um vergangenen Ruhm anzudeuten.
«Soll ich
Hey Jude
weitersingen, oder wollt ihr was auf Hindi hören?»
Er wartete auf Mrs Puris Antwort. Sie stand an der Tür desNebenraums und sagte zu Mani: «Schließ die Vordertür. Und nimm unter gar keinen Umständen das Telefon ab. Verstanden?»
Masterji kehrte nach Einbruch der Dunkelheit zurück und blieb im Treppenhaus der Vishram Society stehen; seine roten Finger suchten nach der Wand.
Am Geländer, auf dem seine Tochter immer auf dem Weg zur Schule hinuntergerutscht war (ihr Vater rief von oben: «Lass das sein, du fällst noch runter!»), sagte er laut zu sich selbst: «Ich starte eine Abendschule. Für die Jungs, die am Tempel Kricket spielen.»
Plötzlich überkam ihn etwas, das er beinahe vergessen hatte: ein Gefühl der Angst. «Ich muss mich morgen auf Diabetes testen lassen», rief er sich in Erinnerung.
Es geht einfach nur darum, Tabletten zu schlucken und weniger Süßigkeiten zu essen. Dann ist alles in Ordnung.
Er ging die Treppe bis in den fünften Stock hinauf und öffnete dort die Tür, die zur Dachterrasse führte.
In der Ferne explodierten Feuerwerkskörper.
Die Hochzeit eines reichen Mannes,
dachte Masterji. Oder vielleicht war es ein obskures religiöses Fest. Hell leuchtende Raketen, Feuerräder und Spiralen schossen über den Nachthimmel. Masterji stützte sich mit beiden Händen auf die niedrige Terrassenmauer. Er hörte etwas, das wie die Musik einer Kapelle klang.
«Wir haben Mr Shah geschlagen!», wollte er schreien, so laut, dass die Feiernden es hören konnten und noch lauter feierten.
Er wünschte, er könnte dorthin gehen, wo die Raketen explodierten, und über dem Feuerwerk in der Luft schweben, über Santa Cruz, über die Kirchen und Strände von Bandra, über den Siddhi-Vinayak-Tempel und die dunkle Rennbahn in Mahalakshmi, bis er am Crawford Market landen würde. Dort würde er nach dem bärtigen Tagelöhner suchen und sich neben ihm schlafen legen und zu jenen gehören, die in dieser Nacht nicht allein waren.Mr Pinto hörte das Telefon nicht, aber das Klingeln drang durch die Watte an die empfindlicheren Ohren seiner Frau. Sie schüttelte ihn an der Schulter, bis er die Ohren entstöpselte und nach dem Hörer griff; es könnten die Kinder sein, die aus Amerika anriefen.
Einen Augenblick lang befürchtete er, es wären wieder diese Drohanrufe. Es war dieselbe Stimme.
«Pinto? Erkennen Sie mich denn nicht? Ich bin’s, Ajwani.»
Mr Pinto atmete aus. «Sie haben mich erschreckt.» Er schaute auf die Uhr. «Es ist 20.15 Uhr.»
«Ist das Tony?», flüsterte Mrs Pinto. «Deepa?»
Dann sagte die dünne Stimme am Telefon: «Außer Ihnen hebt keiner ab, Pinto. Die Sache liegt ganz in Ihren Händen.»
«Wovon reden Sie, Ajwani? Sie machen mir Angst.»
«Wissen Sie, wo ich bin? In Dadar. Ich kann den Bahnhof nicht verlassen. Meine Hand zittert. Ich habe eine Stunde gebraucht, bis ich den Hörer abheben konnte.»
«Der Verwalter hat gesagt, wir sollen im Bett bleiben und uns heute Abend Watte in die Ohren stopfen, Ajwani. Wir gucken fern. Gute Nacht.»
«… Pinto … sagen Sie ihnen, dass es ein Fehler ist, Pinto. Sie müssen ihnen sagen, dass es ein Fehler ist.»
«Wovon reden Sie?»
«Sagen Sie ihnen, dass sie es nicht tun sollen. Wir können doch einfach in unserem Haus so weiterleben wie früher. Sagen Sie das Mrs Puri. Und sagen Sie das dem Verwalter.»
Mr Pinto legte auf.
«Wer war das?», fragte seine Frau.
«Bring mich
nicht
dazu», sagte er, «heute Abend noch einmal ans Telefon zu gehen. Unter keinen Umständen.»
Er legte den Hörer neben die Gabel.
Shelley und er guckten sich ihre Lieblingshindiserie an, in der die Darsteller so übertrieben agierten und die Kamera so oft heranzoomte,dass das Fehlen des Tons das Verständnis für die Handlung nur marginal schmälerte.
Mr Pinto saß mit verschränkten Armen da. Auf ein Stück Papier, das neben dem Sofa lag, hatte er geschrieben
$ 100.000 × 2
und
$ 200.000 × 1
Draußen schlug die Daisy-Duck-Uhr 21 Uhr. Im Nebenraum von Renaissance Immobilien sang Kudwa
A Hard Day’s
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