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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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tamilischen Tempel vorbei, um zu seiner Genossenschaft zurückzukehren. Vor Turm B gingen die Feierlichkeiten weiter.
    Er hatte die Treppe zur Hälfte erklommen, als ein rotes Geschoss in Gegenrichtung an ihm vorbeisauste.
    «Tut mir leid, Masterji.»
    Es war Ms Meenakshi, seine Nachbarin; sie trug eine rote Bluse, die nicht ganz bis zur Jeans reichte.
    «Schon gut, Ms Meenakshi. Wie steht’s?»
    Sie lächelte und ging weiter die Treppe hinunter.
    «Wie geht es Ihrem Freund?», rief er.
    Sie lachte, irgendwo in der Nähe des Erdgeschosses.
    «Mein Freund hat Angst vor Ihnen, Masterji. Er will nicht mehr herkommen.»
    Er hörte, wie sie aus dem Gebäude stürmte. Genau wie Sandhya, die, wenn ihre Freunde sie zu einem Volleyballspiel gerufen hatten, ihr Skizzenbuch fallen ließ und die Treppe hinuntersauste.
    Er legte die Hand an das warme Gebäude. So, wie im Naturkundeunterricht ein Tropfen Formaldehyd auf ein totes Blatt fiel und das geheime Leben des Aderngeflechts offenbarte, so pulsierte auch Vishram von verborgenen, lebenden Verflechtungen. Es ging mit seiner Vergangenheit schwanger.
    Zurück in seiner Wohnung, drehte er den Wasserhahn am Waschbecken auf. Er schlug dagegen. Wasser spritzte heraus, zuerst braun und dann rot und dann versiegte es. Er schlug nochmals dagegen, und nun spuckte der Wasserhahn einen Stein aus. Ein abschließender, roter Strahl, und dann floss das Wasser endlich klar und mit heftigem Strahl.
    Wer sagt, dass das Gebäude einstürzt?,
dachte er, während er sich das Gesicht mit kaltem Wasser wusch.
Es wird ewig halten, wenn wir es gut instand halten.
    In der Küche klatschte der alte Kalender Beifall spendend gegen die Wand.
    Er blätterte bis Oktober vor, wo seine Frau einige Tage markiert hatte (7. Oktober – Zahnarzt). Er fügte selbst einen roten Kringel hinzu.
3. Oktober.
Er blätterte bis zum Juni zurück. Der Kalender vom letzten Jahr, aber das genügte. Er strich den 25. Juni durch. Die rote Spitze des Stiftes hüpfte über Tage und Monate … nur noch 98 Tage.
    Nein.
    Noch 99 Tage.
    Unten explodierte auf dem Grundstück der letzte Feuerwerkskörper.

29. JUNI
    Freitagmorgen im Vishram Turm A, Wohnung 1 B. Kellogg’s Cornflakes, warme Milch, jede Menge Zucker. Marmeladentoast. Ein paar Stückchen Käse.
    Das Geschirr war vom Esstisch abgeräumt und in dem mit schaumigem Seifenwasser randvoll gefüllten Spülbecken versenkt worden.
    Sunil und Sarah saßen auf dem Bett ihrer Mutter und sahen zu, wie Mrs Rego an ihrem Lesetischchen den neuesten Brief ihrer jüngeren Schwester Catherine aufschlitzte, die in Bandra wohnte.
    Der 14-jährige Sunil, in dunkelblau-weißer Schuluniform mit doppeltem Windsorknoten und gebürstetem Haar, Mummys «Chefberater», schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Neben ihm saß Sarah, 11, in ihrer hübschen Uniform (rosa und weiß), die «Beratungsassistentin», baumelte mit den Beinen und beobachtete eine Libelle.
    Mummy setzte sich die Brille auf und begann den beiden Tante Catherines Brief laut vorzulesen, bis sie zu folgendem Satz kam: «Auch wenn Du seit einer Woche nicht geschrieben hast, wie es so Deine
Gepflogenheit
ist …»
    Mrs Rego las ihn ein zweites Mal vor und legte sich die Hand aufs Herz. Hörbares Einatmen. «Gepflogenheit» war ein
äußerst
elegantes Wort, erklärte sie ihren Kindern. Was bedeutete, dass die drei gehörig «übertrumpft» worden waren.
    Das Ziel der Schwestern bei diesem freitagmorgendlichen Briefturnier war es, in einem augenscheinlich banalen an die andere gerichteten Schreiben einen eleganten Ausdruck einzuflechten, der die andere kalt erwischte, sodass sie zugeben musste, dass sie «übertrumpft» worden war. Auch wenn sie nur wenige Minuten(je nach Verkehr auf der Ost-West-Verbindung) voneinander entfernt wohnten, klebte Mrs Rego jeden Freitag einen blauen, vorfrankierten Umschlag zu, adressierte ihn an Mrs Catherine D’Mello-Myer in Bandra West und ging zur Siedlung der Postangestellten an der Vakola-Moschee hinüber, um ihn dort in den roten Postkasten zu werfen.
    Eine Woche später lieferte der Briefträger dann den Gegenumschlag aus Bandra aus.
    Nun musste Mrs Rego Tante Catherine «übertrumpfen».
    Sie nahm ihren besten Parker-Füller und schrieb in ihrer verschnörkeltsten Handschrift:
    Allerliebste Catherine …
    … während ich mich auf eine wichtige Direktionssitzung am Institut vorbereite, erreichte mich Deine reizende kleine Epistel…
    «‹Epistel› ist eine
sehr
elegante Art,

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