Letzter Mann im Turm - Roman
‹Brief› zu sagen», erklärte Mrs Rego den Kindern. Die drei kicherten boshaft. In dem Augenblick, in dem Catherine diese Zeile las, würde sie sich auf ihrem Stuhl winden und sagen müssen: «Oh, jetzt bin aber ich
übertrumpft
worden.»
Sunil nahm Mummys Parker und unterstrich das Wort dreimal, um es seiner Tante Catherine tüchtig reinzureiben.
«Zeit für die Schule.» Mrs Rego erhob sich vom Bett. «Ich hol mal eine Plastiktüte.»
Sie ging in die Küche, um nach Ramaabai, dem Dienstmädchen, zu sehen. Die alte Frau stand am Spülbecken, nahm ein nasses Stück Geschirr nach dem anderen aus dem schaumigen Wasser, wie ein Psychoanalytiker verschüttete Erinnerungen hervorholt, und wischte sie mit einem rosafarbenen Spülschwamm sauber.
«Ramaabai, wenn du heute noch ein Glas zerbrichst, ziehe ich es dir vom Monatslohn ab», sagte Mrs Rego. «Und sei heute Abend pünktlich.»
Das Dienstmädchen machte weiter den Abwasch.
Mrs Rego und ihre Kinder gingen in der Vishram Society von Stockwerk zu Stockwerk und inspizierten die Türen. Eine weitere Ladung Süßigkeiten war vergangene Nacht vom Bauherrn abgeliefert worden, um die (einstimmige) Annahme seines Angebots durch Turm B zu feiern. Die goldenen Ganeshs auf den roten Süßigkeitenschachteln, die von denen ausgeschnitten worden waren, die das Bildnis eines Gottes nicht wegwerfen wollten, tauchten nun zwischen den übereinandergeklebten Shivas und Jesussen an den Türen auf.
Natürlich hatte Mrs Puri einen Ganesh des Confidence-Konzerns an ihre Tür geklebt. Zwei, um genau zu sein. Mrs Regos Nägel kratzten am Schmerbauch des Gottes, bis sich der Karton ablöste. Beim zweiten Ganesh machte sie es genauso. Sunil hielt die schwarze Tüte auf und seine Mutter schnippte die Götter hinein.
Mrs Rego verabschiedete sich am Tor von ihren beiden Beratern – sie würden am Markt in ihren Schulbus einsteigen – und ging in die andere Richtung. Ihre Finger berührten die schwarze Handtasche, ihr Ellbogen stand in spitzem Winkel ab, ihre Lippen waren zusammengepresst, die Augen zusammengekniffen. Kein Quadratzentimeter Angriffsfläche.
Sie warf die schwarze Tüte in die Abfallgrube, wo sich zu ihrem Entzücken ein streunendes Schwein dafür interessierte. Sie wünschte, sie hätte Honig auf die Ganeshs des Confidence-Konzerns geschmiert, die sie von den Türen gezupft hatte.
«Lügner», sagte Mrs Rego, als wollte sie das Tier zum Angriff reizen. «Lügner, Lügner, Lügner.» Sie klatschte dreimal in die Hände.
Sie überließ das Schwein seinem Vergnügen an Mr Shahs Geschenken für Vishram und ging zu ihrem Institut.
Mrs Regos Leben hatte ihr eine hervorragende Schulung in Sachen Lügner verschafft.
Georgina Rego, das «Schlachtschiff», war die eine von zwei Töchtern eines berühmten Arztes in Bandra, der hätte reich sein können, wenn er nicht jedem Dahergelaufenen vertraut hätte. Catherine, ihre jüngere Schwester, mit der sie «Übertrumpfen» spielte, lebte immer noch in einer Wohnung in Bandra. Sie hatte ihrem Vater den Gehorsam verweigert und einen amerikanischen Austauschstudenten geheiratet, einen Halbjuden – damals ein Skandal in der Gemeinde; heute schrieb der ausländische Ehemann, ein stiller Mann mit Ziegenbärtchen, Artikel über das dörfliche Leben Indiens, die in ausländischen Zeitschriften und in den Ausgaben der
Economics and Political Weekly
veröffentlicht wurden, die auf Mrs Regos Schreibtisch im Institut landeten.
Ihr eigener Ehemann, Salvador, war von ihrem Vater ausgesucht worden. Ein Katholik aus Bombay Bandra, der Kammgarnanzüge und dunkle Hemden mochte, auf die seine Initialen S.R. gestickt waren. Nach zwei Jahren in Manila, in denen er für eine britische Handelsbank gearbeitet hatte, gestand er eines Abends in einem Ferngespräch, dass er eine andere gefunden hatte, eine Einheimische, die jünger war. Katholikin natürlich. Auf den Philippinen waren alle gute Katholiken. «Für einen Mann wie mich warst du nie gut genug, Georgina.»
Er nahm sie aus wie eine Weihnachtsgans.
Ihre gesamte Mitgift. Sechzehn George-V.-Half-Sovereigns, die Anteilscheine ihres Vaters an der Colgate-Palmolive-Company, zwei schwere Silberbesteck-Sets – alles im Gepäck ihres Mannes nach Manila geschmuggelt. Ihr Vater war tot, und sie konnte nicht von Catherines Almosen leben, deshalb hatte sie Bandra verlassen, eine alleinstehende Mutter mit zwei Kindern, und war in den Ostteil der Stadt gezogen, in ein Viertel ohne Straßen und ohne guten
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