Letzter Mann im Turm - Roman
Unzüchtigkeit gedeutet werden konnte, nach ihrer «Familie».
Der Wachmann eines Gebäudes in der Nähe des Dhobi Ghat hatte ihr gesagt, sie solle bei ihm am Nachmittag nachfragen, gerade sei eine Arztfamilie aus Delhi hierhergezogen.
Am Abendhimmel sammelten sich wieder Regenwolken. Maryging über die Straße und an einer Reihe Fischverkäufer mit ihrem glänzenden frischen Fang vorbei, um zu erfahren: «Diese Leute aus Delhi haben vor zehn Minuten ein Dienstmädchen gefunden. Ist nicht mal zehn Minuten her.»
Sie dankte dem Wachmann, setzte sich in der Nähe der Fischverkäufer auf eine Steinmauer und atmete in eine Falte ihres Saris. Sie war seit 7 Uhr morgens unterwegs. Zu beiden Seiten sah sie auf blauen Abdeckplanen getrocknete Anchovis, frische Krabben, Garnelen in Plastikeimern und kleine schleimige Dinger, die immer noch zappelten. Eine alte Fischfrau kratzte mit einem gekrümmten Messer die Schuppen von einem sechzig Zentimeter langen Gelbflossenthunfisch.
Als stiege das Heer der dahingeschiedenen Fischseelen empor, erfüllte ein Brausen die Luft.
Mary schaute auf. Eine Boeing, die vom Santa-Cruz-Flughafen aufstieg, durchschnitt den dunkler werdenden Himmel.
Ein Blinder saß vor dem tamilischen Tempel und verkaufte Jasmin. Das Altartor stand offen, und eine kleine Öllampe glomm vor einem schwarzen Ganesh, der von Jahrzehnten heiligen Öls ganz verharzt war.
Die Seitenwand des Tempels mit dem gemalten Dämonenmund tat wieder ihren Dienst als Wicket.
Kumar, der als Putzmann in einem Lokal in der Nähe arbeitete, stand vor der Seitenwand und klatschte sich erwartungsvoll auf die Schenkel.
Dharmendar, der Gehilfe des Zweiradschlossers, nahm mit dem roten Gummiball in der Hand Anlauf zum Wurf.
Timothy, der die Schule geschwänzt hatte, um dabei zu sein, war die Ehre zuteilgeworden, als Erster Schlagmann sein zu dürfen, und er nahm Aufstellung vor dem Dämonenmund.
Statt den roten Ball zu werfen, ließ ihn Dharmendar fallen und grinste.
«Dein Glückstag, Timothy. Deine Mutter kommt.»
«Scheiße.»
Der Junge ließ das Schlagholz fallen, schnappte sich seinen Schulranzen und rannte davon. Mary kreischte seinen Namen – die Kricketspieler pfiffen schadenfroh – und rannte ihm mit erhobener rechter Hand und gekrümmtem Finger hinterher.
Blitze zuckten über ihren Köpfen, und große Regentropfen fielen auf Mutter und Sohn, als sie auf den
nala
zurannten.
6. JULI
Ein alter Mann lehnte sich aus der offenen Tür und genoss den Wind in seinem Haar wie ein Vierzehnjähriger, der zum ersten Mal allein fährt. Er starrte auf einen entgegenkommenden Zug.
Was für eine
Kraft.
Die vorbeifahrende Lokomotive war ein Vektor blanker Wucht, der aus einer anderen Dimension quer durch diese rauschte. Das Bruchstück eines Traumes, das sich in das Erwachen fräste.
Es war 14 Uhr.
Das Erste-Klasse-Abteil war beinahe leer. Aber Masterji hatte sich spontan von seinem Platz erhoben und etwas getan, was er seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht hatte – er hatte sich an die offene Tür des Abteils gestellt.
Der reine Wahnsinn.
Er, der es von allen am besten wissen sollte, wie gefährlich es war, hier zu stehen, er, der seine Schüler so oft davor gewarnt hatte, er, der durch diese Züge so viel verloren hatte.
Noch ein Eilzug rauschte vorbei, und dieses Mal fühlte sich der warme Wind, der zwischen den Zügen aufgewirbelt wurde, wie ein Zauberbann an. Die Gesichter der Pendler ihm gegenüber sahen mächtig aus, magisch, dämonisch gar, als wären sie Wesen aus einer anderen Welt. Oder sie waren vielleicht ständig in seiner Welt anwesend, aber gut verborgen, und jetzt von der kreischenden Energie der aneinander vorbeifahrenden Lokomotiven entfesselt.
Eine Berührung an seiner Schulter.
«Radium, Sir? Es funktioniert. Echtes Radium.»
Masterji drehte sich um. Er brauchte einen Moment, um sich von der Illusion der vorbeifahrenden Dämonengesichter zu erholen.
Ein Mann in einem schmutzigen Hemd bot ihm eine Packung mit Sternen an, die im Dunkeln leuchteten. Radium für Kinder. Zehn Rupien. Geeignet für Schlafzimmerwände. Regt den Intellekt an, bringt Ihr Kind auf die Universität.
Masterji betrachtete die Packung. Er hatte vergessen, ein Geschenk für Ronak zu besorgen.
Gaurav Murthy, dickbäuchig und mit Brüsten, die sich unter dem gemusterten Seidenhemd abzeichneten, ging den Gang des Lebensmittelgeschäfts entlang. Er zeigte auf
Erdnuss-chikkis
und goldene
laddos,
auf geröstete Bananenchips und Tüten
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