Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
Hitze einer Backsteinmauer in einer Sommernacht.
    Er lief durchs Treppenhaus bis ins Erdgeschoss. Durch die achteckigen Sterne des Fenstergitters sah er Ajwani auf dem Grundstück hin und her gehen, er sprach in sein Handy, zweifellos mit einem Klienten.
    Ich könnte das nie,
dachte Masterji.
Verhandeln.
Das Ganze auf die «menschliche Tour» machen. Er besaß keine dieser kleinkalibrigen Persönlichkeitswaffen wie die anderen Männer; taugte nicht zum Charmieren und künstlichen Lächeln, niemals schacherte oder feilschte er wie andere Sterbliche. Weshalb er nur zwei echte Freunde hatte. Und diesen beiden Freunden zuliebe verschmähte er einen Geldsegen. Vor nicht allzu langer Zeit hatten ihn die anderen deshalb einen englischen Gentleman genannt. Genau dieselben Leute.
    Er schlug mit der Faust gegen das Gitter.
    Es war ein Nachhilfetag; er blickte zu den runden Wasserflecken an seiner Wohnzimmerdecke hoch und sah Asteroiden und Weiße Zwerge. Im sich ausbreitenden Schimmel las er E=mc 2 .
    Er ordnete die Bücher in seinem Regal (wohin waren die Agatha Christies verschwunden?), staubte den Teakholztisch ab, versuchte seine Spielerei mit dem Rubik’s Cube einzuschränken, indem er ihn auf einem Bord im Schrank seiner Frau versteckte, ließ die Jalousien herunter und legte sich ins Bett.
    Er schloss die Augen.
    Er sah sie erst, als es zu spät war. Die alte Fischverkäuferin hatte ein ledriges Gesicht, so gerissen wie faltig, und sie balancierte beim Gehen einen Korb auf dem Kopf. Näher und näher kam sie, grinste die ganze Zeit, und erst als sie an ihm vorbeiging, sah er, dass ein großer nasser Fischschwanz aus ihrem Korb ragte.
    Er wachte auf und stellte fest, dass sein Gesicht und seine Arme nach Fisch rochen. Er schleuderte die Kissen vom Bett und stand auf.
    Ich habe mitten am Tag geschlafen,
dachte er. Um ihn herum zuckte das Wohnzimmer wie ein Faradaykäfig, aus dem Licht sprüht. Es war 16.35 Uhr.
    Um für die Sünde des nachmittäglichen Müßiggangs zu büßen, die erste Verfehlung seit seiner Kindheit, wusch er sich das Gesicht dreimal mit kaltem Wasser, klatschte sich auf die Wangen und beschloss, den ganzen Weg zum Bahnhof und zurück zu Fuß zu gehen.
    Tinku Kothari, der Sohn des Verwalters, stand in einer zerknitterten Schuluniform vor seiner Tür. Masterji, den Schlüssel in der Hand, zögerte.
    «Sie wollen mit Ihnen reden.»
    «Wer?»
    Der fette Junge ging die Treppe hinunter. Masterji, den Schlüssel immer noch in der Hand, folgte dem Jungen durch das Tor der Vishram Society; gelegentlich drehte Tinku sich um wie ein dunkler Finger, der ihn weiterlockte. Masterji fand, dass er immer stärker nach Fisch roch. Er folgte dem Jungen zu Ibrahim Kudwas Internetcafé.
    Tinku rannte hinein und rief: «Onkel! Er ist hier!»
    Arjun, der christianisierte Gehilfe, war zur Glaslünette über dem Eingang des Cafés hochgeklettert, um einen lockeren Niet wieder festzuhämmern. Von dort oben blickte er affengleich auf den fetten Jungen hinab, der in das Café gerannt war.
Dass doch jedes Geschöpf seine Nische in dieser Welt findet,
dachte Masterji mit einem Blick auf Arjun.
Noch vor zwei Wochen war ich wie er. Irgendwo zwischen Vishrams Fenstern und Gittern hatte ich einen Platz, auf dem ich hocken konnte.
    Ein Mercedes parkte in der Nähe des Internetcafés.
    Kudwa kam an die Tür. Ajwani stand neben ihm; er wusste, dass die beiden gerade über ihn gesprochen hatten. Sie könnten ihm, schienen Ajwani und Kudwa mit ihren Blicken zu sagen – wenn er das Café betreten, wenn er die Logik des Boykotts einsehen würde –, seinen Platz in der Hierarchie der Vishram Society zurückgeben. Ajwani, der geborene Zwischenhändler, könnte vermitteln; zum Preis heruntergeschluckter Wut und überwundenen Stolzes würde er wieder zum Gemeinschaftsleben seiner Genossenschaft zugelassen werden.
    «Mr Shah hat Ihnen sein Auto geschickt; er wartet zu Hause in Malabar Hill auf Sie. Sie haben
nichts
zu befürchten. Er bewundert Lehrer.»
    Masterji war kaum fähig zu fragen: «Worum geht es hier eigentlich?»
    «Man hat mich gebeten, Sie zu Mr Shah zu bringen. Wir werden Sie nach Vishram zurückfahren, Masterji. Der Fahrer wartet hier.»
    Tinku Kothari, der in der Tür des Cafés stand, beobachtete Masterji.
    «Gibt es hier drin einen Waschraum?», fragte Masterji Tinku. Er konnte den Traumfisch immer noch auf seinem Schnurrbart und an den Fingerspitzen riechen. «Ich möchte mich waschen.»
    «Arjun hat hinten eine Toilette»,

Weitere Kostenlose Bücher