Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
erbarmungslos schüttelten. Er versuchte, ihnen mit schierer Willenskraft Einhalt zu gebieten. Nach und nach hatten sie dann aufgehört, offenbar ganz von selbst. Rhyme konnte den Sieg nicht für sich beanspruchen, aber er verbuchte ihre Niederlage. Dann wandte er sich kleineren Herausforderungen zu und nahm den Kampf gegen seine Lungen auf. Nach einem Jahr in der Rehaklinik hatte er es geschafft, sich von der künstlichen Beatmung zu befreien. Der Beatmungstubus wurde wieder aus seiner Luftröhre entfernt, und er konnte wieder selbst atmen. Das war sein einziger Erfolg im Kampf gegen seinen Körper, und er hegte den dunklen Verdacht, daß seine Lungen nur auf einen geeigneten Zeitpunkt warteten, es ihm heimzuzahlen. Er rechnete damit, daß er in einem oder zwei Jahren an einer Lungenentzündung oder einem Emphysem sterben würde.
Lincoln Rhyme hatte nicht unbedingt etwas dagegen einzuwenden zu sterben. Aber es gab so viele Todesarten. Er war fest entschlossen, daß sein Tod nicht unangenehm sein würde.
Sachs fragte: »Gibt es irgendwelche Hinweise? Letzte bekannte Adresse?«
»Hat sich zuletzt in der Gegend von Washington D.C. aufgehalten«, sagte Sellitto in seinem gedehnten Brooklyner Akzent. »Das ist alles. Sonst nichts. Oh, wir werden sicher bald von ihm hören. Dellray mit seinen ganzen Spitzeln und Informanten vermutlich als erster. Der Tänzer ist wie zehn verschiedene Menschen in einer Person. Operationen an den Ohren, Silikonimplantate im Gesicht. Mal fügt er sich Narben zu, mal läßt er sie entfernen. Mal nimmt er zu, mal nimmt er ab. Einmal hat er einen Leichnam abgehäutet - nahm die Haut der Hände und trug sie wie Handschuhe, um die Spurensicherung reinzulegen.«
»Mich konnte er allerdings nicht täuschen«, unterbrach Rhyme. »Ich hab mich nicht ins Boxhorn jagen lassen.«
Allerdings habe auch ich ihn nicht erwischt, dachte er voller Bitterkeit.
»Er plant alles bis ins kleinste Detail«, fuhr der Detective fort. »Inszeniert ein Ablenkungsmanöver und schlägt dann zu. Anschließend macht er den Tatort verdammt effizient sauber.« Sellitto unterbrach sich. Für einen Mann, der sein Leben der Jagd nach Mördern gewidmet hat, wirkte er plötzlich erstaunlich beunruhigt.
Rhyme ging nicht auf das plötzliche Verstummen seines ehemaligen Partners ein. Die Augen auf das Fenster gerichtet, setzte er den Bericht fort. »Die Sache mit den gehäuteten Händen, das war der letzte Job des Tänzers hier in New York. Ist fünf, sechs Jahre her. Er war von einem Investment-Banker an der Wall Street angeheuert worden, dessen Partner umzulegen. Erledigte den Job gut und sauber. Mein Spurensicherungsteam traf am Tatort ein und suchte ihn ab. Einer von ihnen zog ein zusammengeknülltes Blatt Papier aus dem Mülleimer. Das setzte eine Ladung PETN frei. Etwa 225 Gramm. Beide Mitarbeiter waren tot und praktisch jede eventuelle Spur vernichtet.«
»Tut mir leid, das zu hören«, murmelte Sachs. Es entstand ein unbehagliches Schweigen. Sie war seit über einem Jahr seine Schülerin und Mitarbeiterin -und in dieser Zeit waren sie auch Freunde geworden. Sie hatte sogar manchmal hier übernachtet. Hatte auf der Couch geschlafen oder keusch wie eine Schwester neben Rhyme in seinem fünfhundert Kilogramm schweren Clinitron-Bett gelegen. Aber ihre Gespräche drehten sich vor allem um kriminalistische Themen. Rhyme erzählte ihr vor dem Einschlafen Geschichten, wie er Serienmörder oder geniale Fassadenkletterer geschnappt hatte. Über persönliche Dinge zu sprechen vermieden sie meist peinlich. Auch jetzt sagte sie lediglich: »Das muß sehr schwer für Sie gewesen sein.«
Rhyme schob ihre versteckte Beileidsbekundung mit einer Kopfbewegung beiseite. Er starrte auf die leere Wand. Vor einiger Zeit hatten an den Wänden Kunstposter gehangen. Sie waren schon lange verschwunden, aber sein Geist verband die verbliebenen Klebstoffreste mit imaginären Strichen zu einem schiefen Stern. Rhyme mußte sich wieder an die schreckliche Szene der Explosion in der Wall Street erinnern, er sah die verkohlten, zerfetzten Leichen seiner Mitarbeiter vor sich. Eine große Leere und Verzweiflung breitete sich in ihm aus.
Sachs unterbrach seine düsteren Gedanken. »Der Typ, der den Tänzer damals angeheuert hatte, war der bereit auszusagen?«
»Klar war er bereit. Aber da gab es nicht viel, was er erzählen konnte. Er hinterlegte das Geld und die schriftlichen Instruktionen in einem toten Briefkasten. Kein elektronischer Transfer,
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