Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
einen kurzen Augenblick konzentrierte Sachs sich wieder auf ihre eigenen Gedanken und fragte sich wie so oft, woher Rhyme die Macht hatte, sie in jemand anderen hineinzuversetzen. Manchmal machte es sie wütend, manchmal erregte es sie.
Sie kniete sich hin und ignorierte dabei die Schmerzen in ihren Gelenken. Arthritis hatte sie die letzten zehn ihrer dreiunddreißig Lebensjahre gepeinigt.
»Es ist offenes Gelände hier. Ich fühle mich wie auf einem Präsentierteller.«
»Was denken Sie?«
Da sind Leute, die nach mir suchen. Ich kann nicht zulassen, daß sie mich finden. Auf gar keinen Fall!
Das ist riskant. Ich muß versteckt bleiben. Unten bleiben.
Nirgends ein geeignetes Versteck. Wenn ich gesehen werde, ist alles verloren. Sie werden die Bombe finden, sie wissen dann, daß ich hinter allen drei Zeugen her bin. Sie werden sie in Schutzhaft stecken. Dann hab ich keine Chance mehr, an sie ranzukommen.
Von dieser Panik erfüllt, drehte sie sich um und starrte zu dem einzigen möglichen Versteck. Der Hangar neben der Rollbahn. In der Mauer war ein einzelnes zerbrochenes Fenster, etwa 1,20 Meter hoch und 90 Zentimeter breit. Sie ignorierte es, weil es von innen mit einer verrotteten Sperrholzplatte vernagelt war.
Langsam schlich sie zu dem Gebäude. Der Boden vor dem Hangar war mit Kies bedeckt; keine Chance also, Fußspuren zu finden.
»Da ist ein mit Sperrholz vernageltes Fenster. Die Scheibe ist zerbrochen.«
»Sind die Glasreste im Fenster verdreckt?«
»Ja.«
»Und die Kanten auch?«
»Nein, die sind sauber.« Ihr wurde klar, warum er das gefragt hatte. »Die Scheibe ist also erst kürzlich zerbrochen worden.«
»Genau. Drücken Sie gegen das Brett. Kräftig.«
Ohne größeren Widerstand fiel es nach innen und schlug mit einem lauten Knall auf dem Boden auf.
»Was war das?« rief Rhyme. »Sachs, ist alles in Ordnung?«
»War nur das Sperrholz«, antwortete sie, beunruhigt über seine Nervosität.
Sie leuchtete mit ihrer Halogenlampe in den Hangar. Er war vollkommen verlassen.
»Was sehen Sie, Sachs?«
»Er ist leer. Ein paar verstaubte Kisten. Da ist Kies auf dem Boden...«
»Das war er!« rief Rhyme. »Er hat das Fenster aufgebrochen und Kies reingeworfen, damit er darauf stehen kann, ohne Fußabdrücke zu hinterlassen. Ein ganz alter Trick. Sind irgendwelche Fußabdrücke vor dem Fenster? Ich wette, daß dort auch Kies liegt«, fügte er bitter hinzu.
»Stimmt.«
»Okay, untersuchen Sie das Fenster. Und dann klettern Sie hinein. Aber prüfen Sie erst, ob irgendwelche Bombenfallen angebracht sind. Denken Sie an den Papierkorb damals in der Wall Street.«
Hör auf, Rhyme! Hör endlich auf damit!
Sachs leuchtete wieder mit der Lampe umher. »Ist sauber, Rhyme. Keine Fallen. Ich untersuche jetzt den Fensterrahmen.«
Das PoliLight zeigte nur den schwachen Abdruck eines Fingers in einem Baumwollhandschuh. »Keine Fasern. Nur das Baumwollmuster.«
»Ist irgend etwas im Hangar? Etwas, das sich zu stehlen lohnt?«
»Nein. Er ist ganz leer.«
»Gut«, sagte Rhyme.
»Warum gut«, fragte sie. »Ich habe doch gesagt, daß es keine Abdrücke gibt.«
»Ja, aber das bedeutet, daß er es war, Sachs. Denn wenn es nichts zu stehlen gibt, dann gibt es auch keinen Grund für jemanden, sich Baumwollhandschuhe überzuziehen und dort einzubrechen.«
Sie suchte alles gründlich ab. Keine Fußspuren, keine Fingerabdrücke, keinerlei sichtbare Spuren. Sie saugte die Umgebung des Fensters mit dem Staubsauger ab und packte den Staubbeutel anschließend ein.
»Was ist mit dem Glas und dem Kies?« erkundigte sie sich. »Sollen die in einen Papierbeutel?«
»Ja.«
Feuchtigkeit konnte Beweismittel zerstören, und deshalb war es besser, bestimmte Dinge statt in einem Plastikbeutel in einer braunen Papiertüte zu transportieren - auch wenn es recht unprofessionell
aussah.
»Okay, Rhyme. In vierzig Minuten hab ich's bei Ihnen.«
Sie unterbrach die Verbindung.
Während sie ihre Ausrüstung in den Kombi packte, fühlte sie sich angespannt und gereizt, wie so oft, wenn sie an einem Tatort keine greifbaren Indizien gefunden hatte -etwa einen Revolver, ein Messer oder die Brieftasche des Täters. Die Spuren, die sie gesammelt hatte, würden unter Umständen einen Hinweis darauf geben, wer der Tänzer war oder wo er sich versteckt hielt. Aber die ganze Mühe konnte genausogut umsonst gewesen sein. Sie sollte deshalb so schnell wie möglich zurück in Rhymes Labor, um zu erfahren, was er aus den Spuren herauslesen
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