Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
einer Richtung ab, anschließend macht man eine Vierteldrehung und schreitet das Gelände dann in die andere Richtung ab. Als Rhyme noch das IRD geleitet hatte, war der Ausdruck »das Gitter ablaufen« ein Synonym für das Absuchen eines Tatorts gewesen, und gnade Gott jedem Beamten, der von Rhyme erwischt wurde, wie er eine Abkürzung nahm oder vor sich hinträumte.
Sachs verbrachte eine Stunde damit, auf-und abzulaufen. Selbst wenn die Wasserkanonen alle Fußabdrücke und Kleinstspuren auf der Rollbahn zerstört haben sollten, so könnten doch noch größere Gegenstände vorhanden sein, die der Tänzer möglicherweise verloren hatte. Auch etwaige Fußspuren und andere Körperabdrücke in dem Schlamm neben der Rollbahn wären sicher erhalten geblieben.
Aber sie fand nichts.
»Verdammt, Rhyme, nicht die kleinste Spur.«
»Ach, Sachs. Ich wette, da ist irgend etwas. Ich wette, da ist ganz viel. Es bedarf nur einer etwas größeren Anstrengung als bei einem normalen Tatort. Denken Sie daran, der Tänzer ist anders als andere Täter.«
Oh, das nun schon wieder.
»Sachs.« Seine Stimme klang jetzt tief und verführerisch. Sie spürte einen Schauder. »Versetzen Sie sich in ihn hinein«, flüsterte Rhyme. »Sie wissen, was ich meine.«
Sie wußte genau, was er meinte. Verabscheute den Gedanken. Aber, o ja, Sachs wußte es. Die besten Kriminalisten waren diejenigen, die in ihrem Gehirn eine Stelle fanden, wo die Trennlinie zwischen Jäger und Gejagtem praktisch nicht mehr existierte. Wenn so jemand einen Tatort untersuchte, dann war er kein Polizist mehr, der nach Hinweisen Ausschau hielt, sondern er war der Täter, fühlte sein Verlangen, seine Lust und seine Angst. Rhyme besaß diese Gabe. Und auch wenn sie es selbst nicht gerne zugab: Sachs hatte sie ebenfalls. (Vor einem Monat hatte sie einen Tatort untersucht -ein Mann hatte seine Frau und sein Kind ermordet -, und nachdem alle anderen vergeblich gesucht hatten, war sie es, die schließlich die Mordwaffe fand. Anschließend konnte sie eine Woche lang nicht arbeiten, weil sie von Erinnerungsfetzen geplagt wurde. Sie sah sich als Täter, sah, wie sie auf die Opfer einstach. Sah ihre Gesichter, horte ihre Schreie.)
Eine weitere Pause. »Reden Sie mit mir«, verlangte er. Und endlich war die Gereiztheit aus seiner Stimme verschwunden.
»Sie sind er. Sie gehen dort, wo er gegangen ist. Sie denken, was er gedacht hat...«
Er hatte ihr diese Beschwörungsformel natürlich schon häufiger eingeflüstert. Aber diesmal - wie mit allem, was mit dem Tänzer zu tun hatte -kam es ihr so vor, als hätte er anderes im Sinn, als nur verborgene Beweisstücke zu finden. Sie spürte, daß er verzweifelt versuchte, mehr über den Mörder zu erfahren. Wer er war, was ihn zum Mörder machte.
Wieder erschauderte sie. In ihren Gedanken tauchte ein Bild auf: Letzte Nacht auf dem Flugplatz. Die Lichter der Rollbahn, der Lärm der Flugzeugmotoren, der Gestank der Abgase.
»Los, Amelia... Sie sind er. Sie sind der Totentänzer. Sie wissen, daß Ed Carney im Flugzeug ist. Sie wissen, wie man die Bombe anbringt. Denken Sie nur eine oder zwei Minuten nach.«
Und das tat sie. Beschwor von irgendwo tief drinnen den Drang zum Töten herauf.
Er sprach weiter in dieser unheimlichen, melodischen Stimme. »Sie sind genial«, sagte er. »Sie haben keinerlei Moral. Sie würden jeden ermorden, Sie tun alles, um Ihr Ziel zu erreichen. Sie lenken die Leute ab, Sie benutzen die Leute... Ihre tödlichste Waffe ist die Irreführung.«
Ich liege in Lauerstellung.
Meine tödlichste Waffe...
Sie schloß ihre Augen.
... ist die Irreführung.
Sachs verspürte eine dunkle Hoffnung, eine Wachsamkeit, eine Jagdlust.
»Ich...«
Er fuhr mit leiser Stimme fort. »Gibt es irgendein Ablenkungsmanöver, das Sie versuchen könnten?«
Ihre Augen waren nun geöffnet. »Die ganze Gegend ist verlassen. Nichts, was die Piloten ablenken könnte.«
»Wo verstecken Sie sich?«
»Die Hangars sind alle mit Brettern vernagelt. Das Gras ist zu niedrig, um sich darin zu verstecken. Es gibt keine Lastwagen oder Ölfässer. Keine Seitengassen, keine Schlupfwinkel.«
In ihrem Magen: Verzweiflung. Was soll ich machen? Ich muß die Bombe anbringen. Ich habe keine Zeit mehr. Lichter... überall sind hier Lichter. Was? Was soll ich nur tun?
Sie sprach wieder ins Mikrofon: »Ich kann mich nicht auf der anderen Seite der Hangars verstecken. Dort sind zu viele Arbeiter. Es ist alles zu offen. Sie könnten mich sehen.«
Für
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