Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
helfen uns nicht weiter... Stiefelabdrücke gibt es auch keine, weil er auf den Hangarboden Kies gestreut hat. Er ist clever. Aber wenn er dumm wäre, dann brauchte uns schließlich niemand, stimmt's? Also, was verrät uns das Glas?«
»Was sollte es uns schon sagen?« fragte Sachs kurz angebunden. »Außer, daß er das Fenster eingeschlagen hat, um in den Hangar zu kommen?«
»Mal sehen«, erwiderte Rhyme.
Mel Cooper legte mehrere Splitter auf einen Objektträger und schob ihn unter die Linse des Mikroskops. Er drehte das Objektiv auf kleine Vergrößerung und schaltete die Videokamera dazu, um das Bild auf Rhymes Computer zu übertragen.
Rhyme fuhr mit dem Rollstuhl zu seinem Computer. Er rief: »Befehlsmodus.« Als der Computer seine Stimme vernahm, ließ er pflichtbewußt ein Menü auf dem Bildschirm erscheinen. Rhyme konnte das Mikroskop zwar nicht selbst steuern, aber er konnte über den Computer mit den Bildern arbeiten -sie beispielsweise vergrößern oder verkleinern.
»Cursor links. Doppel-Klick!«
Rhyme beugte sich vor und verlor sich in den Regenbogenfarben der Lichtbrechung. »Sieht aus wie ganz normales Einfachglas.«
»Stimmt«, bestätigte Cooper und fügte hinzu: »Keine Scharten. Wurde mit einem stumpfen Gegenstand eingeschlagen. Vielleicht mit dem Ellbogen.«
»Hm, hm. Sieh dir mal die Bruchlinien an, Mel.«
Wenn jemand ein Fenster einschlägt, dann zerspringt das Glas in einer Reihe von gekrümmten Bruchlinien. Aus der Richtung, in die sie sich krümmen, kann man ablesen, von welcher Seite die Scheibe eingeschlagen wurde.
»Ich sehe Standard-Bruchlinien«, sagte der Techniker. »Schau dir doch mal den Schmutz genau an«, forderte Rhyme ihn auf. »An dem Glas.«
»Okay, ich sehe Regenspuren, Schlammspritzer, Benzinreste.«
»Und auf welcher Seite ist der Schmutz?« fragte Rhyme ungeduldig. Als er noch die IRD-Abteilung geleitet hatte, war eine der häufigsten Beschwerden seiner Mitarbeiter, daß er sich wie ein Oberlehrer aufführte. Rhyme hatte dies stets als Kompliment aufgefaßt.
»Es ist... oh.« Cooper begriff. »Wie ist das möglich?«
»Was?« fragte Sachs.
Rhyme erklärte, um was es ging. Die Bruchlinien begannen auf der sauberen Seite der Scheibe und endeten auf der schmutzigen. »Er war drinnen, als er die Scheibe eingeschlagen hat.«
»Aber das kann nicht sein«, protestierte Sachs. »Die Scherben lagen im Hangar. Er...« Sie unterbrach sich und nickte. »Sie meinen, er schlug die Scheibe nach draußen, schaufelte die Scherben dann mit dem Kies auf und warf alles zusammen nach drinnen? Aber warum?«
»Der Kies sollte gar nicht Fußabdrücke verhindern. Er diente lediglich dazu, uns zu täuschen. Wir sollten denken, er sei eingebrochen. Aber er war bereits drinnen und ist ausgebrochen. Interessant.« Rhyme grübelte kurz über diese neue Situation nach und verlangte dann: »Prüft diese Staubspuren. Ist da Messing dabei? Vielleicht Messing mit Graphit?«
»Ein Schlüssel!« Sachs hatte verstanden. »Sie vermuten, daß ihm jemand einen Schlüssel für den Hangar gegeben hat?«
»Genau das denke ich. Laßt uns herausfinden, wem der Hangar gehört oder wer ihn gemietet hat.«
»Das erledige ich.« Sellitto klappte sein Mobiltelefon auf.
Cooper schaute durch die Linse eines anderen Mikroskops. Es war auf eine hohe Vergrößerungsstufe eingestellt. »Na also«, grinste er zufrieden. »Jede Menge Graphit und Messing. Auch ein Spezialöl. Es war also ein altes Schloß. Er mußte es ein paarmal versuchen, bevor es sich öffnen ließ.«
»Oder?« forderte Rhyme ihn auf. »Los, denkt nach!«
»Oder es war ein ganz neuer Schlüssel!« rief Sachs aufgeregt.
»Genau! Ein neuer, noch fettiger Schlüssel. Prima. Thom, die Tafeln. Bitte schreib: >Zutritt mit einem Schlüssel<.«
In seiner präzisen Schrift schrieb der Gehilfe die Worte nieder.
»Nun, was haben wir noch?« Rhyme pustete in die Mundkontrolle seines Rollstuhls und fuhr so näher an den Computer heran. Er verkalkulierte sich und rammte den Tisch; dabei stieß er fast den Bildschirm um.
»Verflucht«, schimpfte er.
»Alles in Ordnung?« fragte Sellitto.
»Es geht mir prima«, raunzte Rhyme. »Also, was haben wir noch? Ich hatte gefragt, ob es noch irgend etwas gibt.«
Cooper und Sachs bürsteten die übrigen Staubspuren auf ein sauberes Blatt Papier. Sie setzten Vergrößerungsbrillen auf und beugten sich über das Blatt. Cooper nahm mehrere Staubkörnchen mit einem Spatel auf und legte sie auf einen
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