Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
Bett.«
Es gibt Zeiten, da ist es leicht, den Körper zu vernachlässigen, ja, zu vergessen, daß wir Körper haben -Zeiten wie diese, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen und wir über unsere physische Existenz hinauswachsen müssen, um zu arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wir müssen weit über unsere normalen Belastungsgrenzen hinausgehen. Doch Lincoln Rhyme hatte einen Körper, der Vernachlässigung nicht hinnahm. Wundgelegene Stellen konnten vereitern und zu Blutvergiftung führen. Flüssigkeit in der Lunge verursachte Lungenentzündung. Den Katheter nicht an die Blase gelegt? Die Därme nicht massiert, um Stuhlgang zu ermöglichen? Die Stützschuhe zu eng geschnürt? Die Konsequenz war Dysregu-lation des autonomen Nervensystems, und das konnte einen Schlag verursachen. Erschöpfung allein reichte aus, um eine Attacke herbeizuführen.
Zu viele Möglichkeiten zu sterben.
»Du wirst jetzt ins Bett gehen«, befahl Thom.
»Ich muß noch...«
»Schlafen. Du mußt nur schlafen.«
Rhyme gab nach. Der Tänzer würde vor morgen früh nicht aktiv werden -vermutlich erst nach neun oder zehn Uhr, wenn es plausibel erschiene, daß ein Tankwagen eine Lieferung machte.
Außerdem, gestand Rhyme sich ein, war er müde, sehr müde.
»In Ordnung, Thom. In Ordnung.« Er rollte auf den Fahrstuhl zu. »Eine Sache noch.« Er wandte sich um. »Könnten Sie in ein paar Minuten raufkommen, Sachs?«
Sie nickte und sah zu, wie sich die Tür des kleinen Fahrstuhls schloß.
Er lag im Clinitron-Bett.
Sachs hatte zehn Minuten gewartet, um ihm vor dem Schlafengehen Zeit für seine Verrichtungen zu lassen. Thom hatte den kurzen Katheter angelegt und seinem Chef die Zähne geputzt. Sie wußte, daß Rhyme sich gern abgebrüht gab -er legte die typische Geringschätzung eines Krüppels für Schamgefühl an den Tag. Und doch wußte sie, daß es bestimmte intime Verrichtungen gab, bei denen er sie nicht dabeihaben wollte.
Sie nutzte die Zeit, um im Bad im Erdgeschoß zu duschen und saubere Kleider anzuziehen - ihre eigenen, die Thom zufällig in der Waschküche im Keller gehabt hatte.
Das Licht war gedämpft. Wie ein Bär, der sich den Rücken an einem Baum kratzt, rieb Rhyme den Kopf an seinem Kissen. Das Clinitron war das komfortabelste Bett der Welt. Es wog eine halbe Tonne, und seine massive Matratze enthielt Glaskügelchen, durch die warme Luft geleitet wurde.
»Sachs, Sie haben heute gut gearbeitet. Sie haben ihn ausmanövriert.« Außer daß Jerry Banks durch meine Schuld seinen Arm verloren hat.
Und daß ich den Tänzer habe entwischen lassen.
Sie ging zu seiner Bar, goß sich ein Glas Macallan ein, hob fragend eine Augenbraue.
»Aber sicher«, sagte er. »Muttermilch, der Tau der Nepenthe...«
Sie schüttelte ihre Schuhe ab und hob ihre Bluse hoch, um den Bluterguß zu betrachten.
»Aua«, sagte Rhyme mitfühlend.
Der Bluterguß hatte die Umrisse des US-Bundesstaates Missouri und war dunkel wie eine Aubergine.
»Ich mag keine Bomben«, sagte sie. »War noch nie so dicht an einer dran. Ich mag sie einfach nicht.«
Sachs öffnete ihre Handtasche, nahm drei Aspirin heraus und schluckte sie ohne Wasser (ein Trick, den Menschen mit Arthritis früh lernen). Sie ging zum Fenster hinüber. Die Wanderfalken waren da. Schöne Vögel. Sie waren eigentlich nicht groß. Vierzig, fünfzig Zentimeter. Bei einem Hund wäre das winzig. Aber bei einem Vogel... absolut einschüchternd. Diese Schnäbel sahen aus wie die Klauen dieser Wesen aus einem der Alien-Filme.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Sachs? Sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Mir geht's gut.«
Sie ging zu ihrem Stuhl zurück und trank einen Schluck von dem rauchigen Whisky.
»Wollen Sie heute nacht hierbleiben?« bot er an. Sie hatte gelegentlich hier geschlafen. Manchmal auf dem Sofa, manchmal bei ihm im Bett. Vielleicht lag es an dem luftdurchströmten Clinitron, vielleicht auch nur an der einfachen Tatsache, neben einem anderen Menschen zu liegen - sie wußte es nicht -, aber nirgends schlief sie so gut wie hier. Seit ihrem letzten Liebhaber Nick hatte sie keine Beziehung zu einem Mann gehabt. Sie und Rhyme lagen oft nebeneinander und redeten. Sie erzählte ihm etwas über Autos, über ihre Schießwettkämpfe, ihre Mutter und ihre Patentochter. Über das erfüllte Leben ihres Vaters und sein trauriges, nicht enden wollendes Sterben. Sie gab viel mehr Persönliches preis als er, aber das war in Ordnung so. Sie liebte es, ihm zuzuhören, egal worüber er sprechen wollte. Sein
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