Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
nicht.
Sie hatte es Rhyme nie erzählt, aber vor ein paar Monaten hatte sie ein Buch mit dem Titel »Der behinderte Liebhaber« gekauft. Überrascht hatte Sachs gelesen, daß selbst Querschnittsgelähmte zum Liebesakt fähig sind und Kinder zeugen können. Das rätselhafte männliche Geschlechtsorgan hatte buchstäblich ein Eigenleben, und die Durchtrennung der Wirbelsäule schloß nur eine bestimmte Form der Erregung aus. Ein behinderter Mann war zu völlig normalen Erektionen fähig. Gut, er fühlte dabei nichts, aber der körperliche Reiz war - zumindest für sie - nur ein Bestandteil des Ganzen, häufig ein wenig bedeutender. Was zählte, war die Nähe; sie war der Höhepunkt, dem eine ganze Million falscher Kino-Orgasmen nie nahekommen würden. Sie vermutete, daß Rhyme darüber ebenso dachte.
Sie küßte ihn erneut. Fester diesmal.
Nach einem kurzen Zögern erwiderte er ihren Kuß. Es überraschte sie nicht, daß er das gut konnte. Nach seinen dunklen Augen waren seine wohlgeformten Lippen das erste gewesen, was ihr an ihm aufgefallen war.
Dann drehte er sein Gesicht weg.
»Nein, Sachs, nicht...«
»Shh, still...« Sie schob ihre Hand unter die Decke, begann ihn zu reiben, zu berühren.
»Es ist nur, daß...«
Was? fragte sie sich. Daß es nicht klappen könnte?
Aber es lief doch wunderbar. Sie spürte, wie er unter ihrer Hand wuchs, wie er stärker reagierte als so mancher Macho-Liebhaber, den sie gehabt hatte.
Sie glitt auf ihn, trat die Bettücher und die Decke weg, neigte sich über ihn und küßte ihn erneut. Ach, wie sehr sie sich gewünscht hatte, genau hier zu sein, ihr Gesicht an seinem - so nah es nur ging. Ihn spüren zu lassen, daß er für sie der perfekte Mann war. Er war vollkommen, so wie er war.
Sie löste ihr Haar, ließ es über ihn fallen. Beugte sich vor, küßte ihn.
Rhyme erwiderte den Kuß. Sie preßten ihre Lippen aufeinander, eine endlose Minute lang.
Dann plötzlich schüttelte er den Kopf so heftig, daß sie fürchtete, er habe einen Dysregulationsanfall.
»Nein!« flüsterte er.
Sie hatte ein Necken erwartet, sie hatte Leidenschaft erwartet, schlimmstenfalls ein kokettes Oh-oh, keine gute Idee... Aber er hörte sich schwach an. Der hohle Klang seiner Stimme schnitt ihr ins Herz. Sie rollte von ihm herunter, preßte ein Kissen an ihre
Brust.
»Nein, Amelia. Es tut mir leid. Nein.«
Ihr Gesicht brannte vor Scham. Sie dachte an die vielen Male, als sie mit einem Mann ausgegangen war, einem Freund oder flüchtigen Bekannten, und ihr Entsetzen, wenn er begonnen hatte, sie wie ein Teenager zu begrapschen. In ihrer Stimme hatte dann dieselbe Bestürzung gelegen, die Rhyme soeben gezeigt hatte.
Also das war alles, was sie ihm bedeutete, begriff sie endlich.
Eine Partnerin. Eine Kollegin. Eine gute Freundin.
»Es tut mir leid, Sachs... Ich kann nicht... Es gibt da Komplikationen.«
Komplikationen? Keine, die sie erkennen konnte, außer natürlich der Tatsache, daß er sie nicht liebte.
»Nein, mir tut es leid«, sagte sie brüsk. »Dumm von mir. Zuviel von diesem verfluchten Scotch. Ich habe das Zeug nie vertragen. Das wissen Sie.«
»Sachs.«
Ein dünnes, eingefrorenes Lächeln lag auf ihrem Gesicht,
während sie sich hastig ankleidete. »Sachs, lassen Sie mich etwas sagen.« »Nein.« Sie wollte kein weiteres Wort hören. Sie wollte nur weg von hier. »Sachs...« »Ich sollte gehen. Ich werde früh wieder hier sein.«
»Ich möchte etwas sagen.«
Doch Rhyme erhielt keine Gelegenheit mehr, etwas zu sagen, sei es nun eine Erklärung, eine Entschuldigung oder ein Geständnis. Oder eine Strafpredigt.
Sie wurden von einem lauten Hämmern an der Tür unterbrochen. Bevor Rhyme antworten konnte, stürzte Lon Sellitto in den Raum.
Er schaute ohne Befremden zu Sachs, dann zu Rhyme und verkündete: »Habe gerade von Bo's Leuten drüben im Zwanzigsten gehört. Der Tänzer war dort, hat die Gegend ausgekundschaftet. Der Mistkerl hat angebissen! Wir werden ihn kriegen, Lincoln. Diesmal kriegen wir ihn.«
»Es war vor zwei Stunden«, fuhr der Detective mit seiner Geschichte fort. »Ein paar Jungs der Überwachungseinheit haben einen Mann gesehen, der rund ums Bezirksamt des Zwanzigsten streifte. Er verschwand in einer Gasse, und es sah ganz danach aus, als checkte er die Wachposten aus. Und dann nahm er die Zapfsäule neben der Wache ins Visier.«
»Die Zapfsäule? Für die Streifenwagen?«
»Genau.«
»Sind sie ihm gefolgt?«
»Sie haben es versucht. Aber er
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