Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
Polizistin. Sie war völlig aufgewühlt.
»Sachs?« fragte er.
»Warum hat er das getan?«
»Die Bombe?«
Sie schüttelte den Kopf. »Warum hat er sie in den Kühlschrank gesperrt?« Ein Finger wanderte unwillkürlich zum Mund, und sie kaute am Nagel. Nur ein einziger ihrer zehn Fingernägel -der am kleinen Finger der linken Hand - war lang und wohlgeformt. Die anderen hatte sie abgekaut. Einige waren braun von getrocknetem Blut.
Rhyme antwortete: »Ich denke, er tat es, um uns abzulenken, so daß wir nicht an eine Bombe denken würden. Die Leiche im Kühlschrank - die bekam unsere volle Aufmerksamkeit.«
»Das meine ich nicht«, entgegnete sie. »Die Todesursache war Ersticken. Er hat sie bei lebendigem Leib da hineingesperrt. Warum? Ist er ein Sadist oder so was?«
Rhyme antwortete: »Nein, der Tänzer ist kein Sadist. Das kann er sich nicht leisten. Sein einziges Ziel ist es, den Job zu beenden, und er hat genug Willenskraft, dabei seine Triebe unter Kontrolle zu behalten. Warum hat er sie also ersticken lassen, wenn er genausogut ein Messer oder ein Stück Schnur hätte nehmen können? ... Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte sich als günstig für uns erweisen.« »Wie das?«
»Vielleicht hatte sie etwas an sich, das er so sehr haßte, daß er sie auf die denkbar unangenehmste Art umbringen wollte.« »Yeah, aber warum ist das gut für uns?« fragte Sellitto. »Weil« -Sachs gab die Antwort - »es bedeutet, daß er möglicherweise seine Kaltblütigkeit verliert. Er wird nachlässig.«
»Exakt«, rief Rhyme voller Stolz auf Sachs, weil sie diesen Schluß gezogen hatte. Doch sie registrierte weder sein Lächeln noch seine Anerkennung. Ihre Augen schlössen sich für einen Augenblick, und sie schüttelte den Kopf. Vermutlich sah sie noch einmal die entsetzten Augen der toten Frau vor sich. Die meisten Menschen hielten Kriminalbeamte für kalt (wie oft hatte seine Frau ihm diesen Vorwurf gemacht?), aber in Wahrheit entwickelten die besten von ihnen eine herzzerreißende Anteilnahme für die Opfer, wenn sie die Tatorte untersuchten. Sachs war eine von
ihnen.
»Sachs«, flüsterte Rhyme sanft, »der Fingerabdruck.«
Sie sah ihn an.
»Sie sagten, Sie hätten einen Abdruck gefunden. Wir müssen uns beeilen.«
Sachs nickte. »Es ist ein Fragment.« Sie hob die Plastiktüte hoch.
»Könnte er von ihr stammen?«
»Nein, ich habe ihre Abdrücke genommen. Hat eine Weile gedauert, bis ich ihre Hände fand. Aber der Abdruck ist definitiv nicht von ihr.«
»Mel«, bat Rhyme.
Der Techniker legte das Stück Klebeband in einen SuperGlue-Rahmen und erhitzte ihn ein wenig. Sogleich wurde ein winziger Ausschnitt des Abdrucks sichtbar.
Cooper schüttelte den Kopf. »Das glaube ich einfach nicht«, murmelte er.
»Was?«
»Der Tänzer hat das Band abgewischt. Er muß gemerkt haben, daß er es ohne Handschuhe berührt hatte. Es ist nur ein Stückchen von einem Teilabdruck drauf geblieben.«
Cooper war ebenso wie Rhyme Mitglied der Internationalen Vereinigung für Identifizierungen. Sie waren Experten darin, Menschen aufgrund von Fingerabdrücken, DNA und Odontologie -Überresten von Gebissen -zu identifizieren. Doch dieser spezielle Abdruck überstieg ebenso wie der auf dem Metallbügel der Bombe ihre Möglichkeiten. Wenn es Experten gab, die einen Abdruck sichern und zuordnen konnten, so waren es diese beiden Männer. Doch nicht diesen hier.
»Mach ein Foto, und wirf es an die Wand«, grummelte Rhyme. Sie würden die übliche Prozedur abwickeln, weil das nun einmal zum Geschäft gehörte. Aber er war enttäuscht. Sachs wäre beinahe gestorben - für nichts und wieder nichts.
Der berühmte französische Kriminalist Edmond Locard hatte eine nach ihm benannte Theorie entwickelt. Sie besagte, daß bei jeder Begegnung zwischen einem Verbrecher und seinem Opfer Beweismaterial ausgetauscht wird. Mochte es auch mikroskopisch klein sein, der Austausch fand statt. Wenn überhaupt jemand Lo-cards Theorie widerlegen könnte, dachte Rhyme grimmig, so wäre es jener Geist, den sie den Totentänzer nannten.
Angesichts der Frustration, die Rhyme so deutlich im Gesicht stand, sagte Sellitto: »Wir haben ja noch die Falle bei der Polizeiwache. Wenn wir Glück haben, kriegen wir ihn damit.«
»Das wollen wir hoffen. Wir könnten verdammt noch mal ein wenig Glück gebrauchen.«
Er schloß die Augen und ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Einen Augenblick später hörte er Thom sagen: »Es ist fast elf. Zeit fürs
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