Leuchtfeuer Der Liebe
haben."
Sie schluckte schwer. „Weil es die Wahrheit ist."
1
„Jeder Mensch hat irgendjemand."
„Auch Sie, Jesse? Haben Sie jemand?"
Er wandte sich ihr zu. „Meine Eltern, aber sie befinden sich auf einer ausgedehnten Auslandsreise. Und eine Schwester", fügte er kurz angebunden hinzu. „Ich habe sie allerdings lange nicht gesehen."
„Wie heißt sie?"
„Annabelle", antwortete er. „Und sie ..." Er lehnte sich gegen die Tür. „Wir sprechen von Ihnen, nicht von mir. Ich will an jemanden schreiben oder telegrafieren. Es gibt gewiss einen Menschen ..."
„Es gibt niemanden, verdammt noch mal!" platzte sie heraus. „Niemanden! Keinen Menschen!" Sie ahnte, was er als Nächstes fragen würde - er würde wissen wollen, von wem das Kind in ihrem Bauch wäre.
Ohne ihm Gelegenheit zu geben, die Frage zu stellen, drängte sie sich an ihm vorbei und stürmte aus dem Haus. Tränenblind lief sie durch den Garten und schlug den Pfad zum Leuchtturm ein. Die Lampe war noch nicht angezündet, und der Turm ragte als trutzige Silhouette in den feuerroten Abendhimmel: ein Turm der Hoffnung, ein Wächter der Einsamkeit.
Sie hörte seine Schritte und drehte sich um. Verärgert wischte sie sich die Tränen von den Wangen. „Als Sie mich fanden, war ich auf der Flucht. Ich wollte fliehen, so schnell und so weit ich nur konnte. Es war mir egal, ob ich am Ende der Welt in einen Abgrund stürze. Können Sie das verstehen?"
Er sah sie ernsthaft an. „Seltsamerweise ja."
„Dann wissen Sie auch, wie ich mich fühle." Sie fixierte den Leuchtturm auf den felsigen Klippen. „Wenn Menschen fliehen, laufen sie nicht auf ein Ziel zu, sie laufen einfach weg. Es ist kein Zufall, dass ich hier gestrandet bin. Am Ende der Welt."
„Hier stranden viele Menschen", sagte er. „In der Columbia- Mündung zerschellen mehr Schiffe als an der gesamten Pazifikküste."
„Ich spreche nicht von Schiffbruch." Sie hob den Arm, und ehe er reagieren konnte, hatte sie seine Hand genommen. „Tun Sie es nicht, Jesse. Übergeben Sie mich nicht der Polizei."
„Sie der Polizei übergeben ... ?" Er blickte auf ihre ineinander verschlungenen Hände. Sie erwartete, dass er sich ihr entzog, aber er tat nichts dergleichen, trat stattdessen einen Schritt näher. „Erzählen Sie mir, in welchen Schwierigkeiten Sie sind. Haben Sie gestohlen? Einen Mord begangen?"
„Ganz bestimmt nicht. Und das wissen Sie. In Ihrem Herzen wissen Sie, dass ich keine Verbrecherin bin."
Sie wagte den großen Sprung, wusste von vornherein, dass es falsch war, ohne sich zurückhalten zu können. Sie presste seine flache Hand an ihren gewölbten Leib. „Sind meine Schwierigkeiten nicht deutlich zu sehen?"
Er riss seine Hand zurück, als habe er sich verbrannt. „Verdammt noch mal!"
„Was denn? Ich wollte nur ..."
„Und ich will nur in Frieden gelassen werden. Halten Sie sich von mir fern, Mary. Lassen Sie mich in Ruhe." Er schritt den Hügel zum Leuchtturm hinauf.
Sie schaute ihm nach, seiner einsamen, hoch gewachsenen Gestalt, die nur von seinem langen Schatten in der untergehenden Sonne begleitet wurde. Bis zum Morgen würde sie ihn nicht sehen, da er Wache auf dem Leuchtturm hielt.
Was für ein befremdliches und trauriges Leben führte dieser Mann, der nachts über das Leuchtfeuer wachte und Ausschau nach vorbeifahrenden Schiffen hielt? Fragte er sich gelegentlich nach dem Schicksal, nach dem Ziel der Menschen auf diesen Schiffen? Verspürte er je den Wunsch, diesen einsamen Ort zu verlassen?
Dieser Mann war von tiefen Geheimnissen umgeben. Er verbarg etwas in seiner Vergangenheit, das ihn zwang, die Augen vor der Gegenwart zu verschließen.
Er geht mich nichts an, ermahnte sie sich. Und dennoch wusste sie, dass sie versuchen würde, ihn näher kennen zu lernen. Die Welt hatte Jesse Morgan aufgegeben. Die Welt hatte sich von ihm abgekehrt und er sich von ihr.
Es gibt einen Grund ...
Sie war als Einzige gerettet worden, alle anderen auf der Blind Chance waren ertrunken. Jesse würde ihr nicht anvertrauen, welchen Grund er in ihrer Rettung sah.
Mary hielt den Blick unverwandt auf den Leuchtturm gerichtet und beobachtete, wie die Lampe aufflackerte, als er die Dochte entzündete. In einem unbedachten Moment hatte er gesagt: „Es gibt einen Grund ..."
Sie kannte den Grund.
Sie hatte dieses Licht nach dem Schiffsuntergang gesehen, war ihm gefolgt. Sein Licht hatte ihr das Leben gerettet. Der Mann, der dieses Licht für sie entzündet hatte, konnte es nicht
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