Leuchtfeuer Der Liebe
wissen, doch er war der Grund für ihre Rettung.
Er behauptete, er wolle nichts mit ihr zu tun haben. Doch das zählte nicht. Sie konnte ihm helfen. Vielleicht konnten sie einander helfen. So, wie er sie der gnadenlosen See entrissen und an Land gezogen hatte, musste sie ihn an ihr wärmendes Licht ziehen und ihn zu einem neuen Leben erwecken.
Sie wusste nicht, ob sie den Wunsch dazu verspürte. Sie wusste nur, dass sie gezwungen war, es zu tun. Sie war verstört, verletzt und wütend, aber ihr blieb keine andere Wahl, keine andere Zuflucht.
Vom Meer her wehte ein frischer Wind. Am Horizont zogen Wolken auf. Ein Sturm braute sich zusammen.
„Du bist eine dumme Gans, Mädchen", sagte sie halblaut. „Dieser Mann ist ein übellauniger Hagestolz, der deinen Anblick nicht ertragen kann." Sie legte die Hände schützend um ihren Leib. „Hast du immer noch nicht begriffen, dass auf gut aussehende Männer kein Verlass ist?"
Als der Morgen durch die schweren Sturmwolken graute, schlug Jesse das Logbuch auf. Zu den Aufgaben des Leuchtturmwärters gehörte der tägliche Eintrag der Vorkommnisse auf der Station. Seine Berichte waren knapp und trocken: .Schwere See, Wind aus Südwest. Sturmböen mit ergiebigen Regenschauern.'
Danach erfolgte der Eintrag vom Sonntag. ,Bergung eines Schiffbrüchigen weiblichen Geschlechts aus dem Wrack des Viermastschoners Blind Chance.'
Er schrieb nicht, dass sie schön war wie ein Engel und hilflos wie ein verirrtes Lamm. Er schrieb auch nicht, dass sie schwanger war. Diese Einzelheiten würden ihn zwingen, sie als Mensch zu sehen, nicht nur als Pflicht. Dazu war er nicht bereit. Dazu würde er nie wieder bereit sein.
Er beendete den Eintrag und wischte die Tinte von der Feder. Der Sturm würde bei Tagesanbruch erst richtig losbrechen, er musste sich bereit machen. Er spürte den Sog einer beinahe mystischen Verbindung zwischen Meer und Himmel. Lange bevor andere einen Sturm herannahen sahen, spürte Jesse ihn in den Knochen. Und es war kein angenehmes Gefühl, eher wie ein Übelkeitsgefühl in der Magengrube.
Jetzt war dieses Gefühl sehr deutlich. Er trank eine Tasse lauwarmen Tee, wusch sich Gesicht und Hände, stutzte die Dochte der großen Lampe und blickte hinaus auf den bleiernen Himmel und die brodelnde See.
Die eisengrauen Wogen bäumten sich auf und schienen in die Wolken zu stoßen. Gischt spritzte hoch, wenn die Wellenberge unter der Gewalt des Sturms brachen. Am Horizont war nichts zu sehen außer hochragender Wellenkämmen und aufspritzenden Gischt der stürzenden Brecher.
Jesse stand im verglasten Kanzelvorbau des Leuchtturms, spähte aufmerksam über die tosende See, alle Sinne wachsam gespannt.
Der immer stärker werdende Sturm peitschte gegen die Glasscheiben und pfiff gespenstisch durch die Ritzen. Die hohen Bäume hinter dem Leuchtturm neigten ihre Wipfel, als würden sie dem Sturm ihre Achtung erweisen. Die Gräser der Dünen auf Sand Island lagen flach im hochfliegenden Sand. Ein Schwärm Seemöwen hatte am Hang einer Düne Schutz gesucht, sie standen eng aneinander geschmiegt auf einem Bein, die Köpfe unter den Flügeln versteckend.
Jesse warf einen Blick auf die Uhr. Seine Schicht war bald vorbei, und Magnus würde ihn ablösen. Er trat auf den Eisensteg, suchte keinen Schutz vor den Naturgewalten, hob das Gesicht in Wind und Regen, der auf ihn herniederprasselte und ihm wie Nadelspitzen in die Haut stach.
Er hielt die Eisenreling umklammert wie der Kapitän eines Schiffes, das sich nicht von der Stelle rührte.
Und dann sah er es. Zunächst ein Flackern auf dem Kamm eines heranrollenden Brechers. Eine winzige Funzel wie eine Kerzenflamme. Dann die schemenhaft dunklen Umrisse eines
Rumpfes, der einen Wellenberg erklomm. Im nächsten Augenblick wurde das Boot von einem Brecher verschlungen.
Es waren Schiffbrüchige, die versuchten, das rettende Ufer zu erreichen.
Jesse stieß sich von der Reling ab und riss die Eisentür auf, zog an der Nebelglocke und hastete die Spiralen der Eisenstiege nach unten.
Er rannte zum Stall, sprang auf D'Artagnans Rücken, ohne sich Zeit zu nehmen, ihn zu satteln, und drängte das Pferd unerbittlich den Pfad zum Küstenstreifen hinunter. Durchhalten, durchhalten, durchhalten. Der Befehl hämmerte den Takt in seinem Kopf und seinem Herzen.
Da draußen wurde ein Boot in der Brandung hin und her geworfen, drohte jeden Moment an den zerklüfteten schwarzen Felsen zu zerschellen. Jesse wusste nicht, ob das Boot bemannt
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